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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis
Autoren: Valentin Zahrnt
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zurückgelassen haben? Eine halbe Stunde mussten sie warten, so lautete die Abmachung.
    Morgennebel driftete aus dem Wald und umhüllten sie. „Wir müssen auf die Lichtung“, rief Jan leise.
    „Bleib ruhig“, ermahnte ihn Michael. „Der Nebel wird sich gleich verziehen.“ Tatsächlich trug der kühle Windhauch die Schwaden bald weiter und sie erblickten wieder das Gebüsch, in dem Anna liegen musste. Sie musste noch dort sein! Sie musste!
    „Ich muss pieseln.“ Michael schaute Jan beschwörend an. „Du behältst die Nerven. Wenn wir die Mörder in fünf Minuten nicht gesehen haben, sind sie nicht hier – oder sie haben unsere Falle durchschaut.“
    „Geh nicht zu weit!“
    „Nur hinter den Baum.“
    Etwas wie ein Schrei. Von Michael. Jan fuhr herum und sprang zu seinem Freund, der einige Meter weiter auf dem Boden kniete und erbrach.
    „Was ist los?“
    Michael deutete mit einer Hand nach oben.
    Jan schaute zwischen den Stämmen umher. Vermooste Rinden, dunkle Nadeln und Blätter, nur hier und da ein Lichtstrahl, der die Farben hervortreten ließ. Da! Mitten in einem dieser Strahlen hing ein Eichhörnchen. Auf dem weißen Bauch klaffte ein blutiger Schnitt. Das Eichhörnchen baumelte mit dem Kopf nach unten, sein buschiger Schwanz war mit einem schwarzen Bikini-Top verknotet. Ein anderes Bild blitzte in Jans Erinnerung auf: Anna unter dem Wasserfall, der schäumend auf ihre Schulter prasselte. Anna, wie sie die Hände dem Wasserfall entgegenstreckte, ihr funkelnder Blick, ehe sie der spritzende Vorhang wieder verhüllte. Ihr schwarzer Bikini.
    „Anna!“, brüllte Jan und warf sich blindlings durch die Schösslinge hinaus auf die Wiese. „Anna!“
    Seine Schritte hämmerten über den Boden. Oder war es sein Herzschlag? Alles dröhnte.
    Vor ihm das Gebüsch.
    Ein Sonnenstrahl schillerte auf dem Tau.
    Er stürmte die Senke hinunter, hinein ins Gebüsch. Die Zweige schlugen ihm ins Gesicht. Er krabbelte zu Anna und umarmte sie, presste sie an sich und versteckte sein Gesicht an ihrem Hals.
    „Sie sind nicht gekommen!“, rief sie und hielt ihn mit zitternden Armen. „Alles ist gut. Sie sind nicht gekommen. Wahrscheinlich haben sie unsere Fährte verloren und sind heute Nacht mit dem Lautsprecher hin und hergelaufen, um uns wiederzufinden.“
    „Sie sind da! Sie haben uns ein Zeichen hinterlassen“, rief Jan und war sich nicht sicher, ob sie ihn hören oder nur auf ihrer Haut spüren konnte.
    Jenny und Michael kamen zu ihnen gekrabbelt und erzählten Anna von ihrem Fund. Michael roch nach Erbrochenem, Jenny war bleich, doch gefasst.
    „Mein schwarzer Bikini? Das Oberteil habe ich gestern bei unserem überstürzten Aufbruch mit in den Rucksack gestopft, und als ich bei der ersten Pause darauf gestoßen bin, habe ich ihn unter einem Stein versteckt liegen lassen, schließlich wollte ich nichts unnötig rumtragen. Die Mörder müssen uns bereits da beobachtet haben. Gestern haben sie sich nicht gezeigt, damit wir leichtsinnig werden. Jetzt, da sie erkannt haben, dass wir mit ihnen rechnen, wollen sie uns aufreiben.“
    Jan rollte ein wenig zur Seite und zog einen abgebrochenen Ast unter sich hervor.
    „Uns bleibt nur die Flucht über die Berge“, sagte Jenny.
    Michael kramte in seinem Rucksack. „Ich bin nach wie vor dagegen. Hier ist die Karte. Schaut euch an, wie viel Strecke wir im Hochgebirge zurücklegen müssen. Wir können in eine Gletscherspalte fallen, eine Felswand hinunterstürzen, einen Steilhang abrutschen. Wir können in eine Lawine geraten oder einfach so erfrieren, falls das Wetter schlecht oder die Nacht kalt wird. Und je erschöpfter wir sind, desto leichter das Spiel der Mörder.“
    „Ich bleibe dabei, dass die Schlucht eine Sackgasse ist.“ Jenny griff sich die Karte. „Schau dir an, wie sich der Fluss zwischen den Bergen durchschlängelt. Zähl mal nach, wie viele Höhenlinien da zusammenfließen. Die Wände müssen mehrere hundert Meter hoch sein.“
    „Selbst wenn es eine Sackgasse ist, was haben wir zu verlieren? Eine Sackgasse hat nur einen Zugang – und den können wir verteidigen.“
    „Genau deswegen werden uns die Mörder gar nicht erst hineinlassen.“ Jenny sprach schärfer. „Wie wollen sie uns dort überraschen? Wie verhindern, dass wir uns ins Wasser werfen?“
    „Lieber ein riskanter Versuch als ein langsames Ende in den Bergen!“
    „Wir müssen sie in die Irre führen“, sagte Anna gedankenverloren.
    Jan war sich sicher, dass die Anderen ebenso wenig
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