Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wilde Wellen

Wilde Wellen

Titel: Wilde Wellen
Autoren: Christiane Sadlo
Vom Netzwerk:
Streifenwagen stieg, hatte sie den kleinen Schauder, der ihr im Treppenhaus über den Rücken gelaufen war, schon wieder vergessen. Sie ahnte nicht, dass es fast einen Monat dauern würde, bis sie wieder in ihre geliebte Wohnung und in ihr Leben zurückkehrte. Und dass dann nichts mehr sein würde wie früher.
2
    Leon Menec stand auf der Terrasse des Schlosses und starrte auf die tiefschwarze Wolkenwand, die der Sturm über die tobenden Wellen des Atlantiks auf das Land zu trieb. Die Farbe des Meeres hatte sich in Minutenschnelle von aquamarinfarbenem Blau über giftgrelles Grün in ein drohendes Schwarz verwandelt, gekrönt von weiß schäumenden Spitzen. Möwen tanzten ihre eleganten Tänze über dem brodelnden Wasser, unbeirrt von der elektrischen Spannung, mit der sich die Atmosphäre über der felsigen Landspitze Pointe de la Torche auflud. Ein einsamer Surfer jagte auf den Wellenkämmen der felsigen Küste entgegen; er stand auf dem Board so sicher wie andere Leute auf dem Teppich in ihrer Wohnung. Mann und Brett waren eine schwerelose Einheit, die in vollendeter Leichtigkeit den Gewalten der Naturen zu trotzen schienen. Leon beobachtete seinen Sohn mit einer Mischung aus Stolz und Sorge. Er liebte diesen schmalen, durchtrainierten, jungen Mann mit jeder Faser seines Herzens. War er doch wie ein Geschenk des Himmels vor zweiundzwanzig Jahren in sein Leben gekommen. Ein unverdientes Geschenk. In einer Zeit, in der Leons Leben unter der Schuld, die er auf sich geladen hatte, zu zerbrechen drohte, hatte das Baby Caspar mit seiner winzigen Hand nach Leons Finger gegriffen. Hatte ihn mit festem Griff umklammert, und es war ihm, als hätte er ihn nie mehr losgelassen. Die Erinnerung an den bezaubernden kleinen Jungen, der sich mir nichts, dir nichts in sein erstarrtes Herz geschmuggelt hatte, brachte ein Lächeln auf das asketische Gesicht des großen Mannes. Caspar war seine Rettung gewesen. Der zarte Junge mit dem ungebärdigen Blondschopf und den großen blauen Augen hatte Leon wieder fest im Leben verankert. Durch ihn hatte sein Leben wieder einen Sinn bekommen. Durch ihn hatte er gelernt, mit der Schuld zu leben. Auch wenn diese Schuld, die so drückend auf ihm lastete, in all den Jahren, die seit dem Untergang der Helena vergangen waren, nicht leichter geworden war.
    Fünfundzwanzig Jahre war es nun her – er hatte gerade seinen vierzigsten Geburtstag gefeiert –, da hatte er auf dieser Terrasse gestanden. Im peitschenden Regen, hin und her gerissen von wilden Windböen, hatte er sich an die steinerne Brüstung geklammert und gehofft, dass alles gut würde. Der Tag war mit dem ersten Sturm des Herbstes gegangen, die Nacht hatte unter donnerndem Gebrause Mond und Gestirne verhüllt. Und dann war da plötzlich dieser neue Ton gewesen. Ganz fern zuerst, kaum vernehmbar in der Wucht der Naturgewalten, ein leises Stöhnen. Das angeschwollen war zu einem gequälten, vielstimmigen Todesschrei. Dem Schrei von zwölf Männern, die um ihr Leben gekämpft und es in der Unendlichkeit der Nacht verloren hatten. Als am anderen Morgen über der Stille des Meeres, das nach dem Sturm glatt wie ein seidenes Tuch dalag, eine glühende Sonne aufgegangen war, hatte Leon gewusst, dass er das riskante Spiel, das er gespielt hatte, gewonnen hatte. Der Todesschrei der zwölf Männer aber, die beim Untergang der Helena das Leben verloren hatten, würde ihn von nun an durch sein Leben begleiten. Jede Stunde. Bis zu seinem Tod.
    Claire Menec stand am Fenster und beobachtete ihren Mann. Die attraktive blonde Frau, die in ihren dunkelblauen Jeans und der weißen Bluse aussah wie ein Model, strich sich nervös eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wie jedes Jahr am vierten September wünschte sie sich, sie könnte einfach hinausgehen auf die Terrasse, ihren Mann am Arm nehmen und in das sichere Haus zurückbringen, in dem sie seit mehr als zwanzig Jahren mit ihm lebte. Wieso konnte er nicht endlich vergessen? Sie hasste die Macht, die die Erinnerung über Leon hatte. Sie wünschte sich, er könnte endlich aufhören, sich zu quälen. Das Leben genießen, hier und jetzt. Mit ihr. Mit Caspar. Doch sie wusste, dass sie keine Chance gegen die Erinnerung dieser Nacht hatte. Am Anfang ihrer Ehe hatte sie ein paar Mal versucht, Leon an diesem vierten September abzulenken von seinen trüben Gedanken. Sie hatte ihn nach London gelockt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher