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Wilde Wellen

Wilde Wellen

Titel: Wilde Wellen
Autoren: Christiane Sadlo
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Sie hörte deutlich Moniques schnelle, liebevolle Stimme, mit der sie, als Marie sieben war, dieses Küchenbüfett einem Elsässer Bauern abgeschwatzt hatte. Zusammen hatten sie in einer mühevollen Aktion die vielen Farbschichten, mit denen es über Generationen hinweg malträtiert worden war, abgebeizt, bis sie schließlich auf dem Holz angekommen waren. Auf Maries dringenden Wunsch war das hübsche Möbel anschließend liebevoll mit einer zarten hellblauen Lasur behandelt worden. Und es war eines dieser Stücke geworden, die einem sofort in den Sinn kommen, wenn man sich an einen bestimmten Ort erinnert. Für Marie gehörte das Wort »Zuhause« unbedingt mit der Erinnerung an dieses hellblaue Büfett zusammen, das den Mittelpunkt der gemütlichen Wohnküche in dem alten Fachwerkhaus in Colmar gebildet hatte.
    Sie warf der hübschen Frau auf dem Foto eine Kusshand zu.
    Â»Salut, Maman.«
    Â»Ich wünsch dir einen schönen Tag, Marie«, schien Monique zu sagen. »Pass auf dich auf, Kind.« Wie oft hatte sie das gesagt. Als Marie sich morgens auf das Rad geschwungen hatte, um über die kopfsteingepflasterten Straßen von Colmar zur Schule zu fahren. Als sie mit ihren Freunden in die Disko nach Straßburg gefahren war oder auf die Abiturientenreise nach Rom. Und immer wieder, wenn sie nach einem innigen Wochenende in Colmar in den Zug nach Paris gestiegen war, um in ihren Alltag als junge Polizistin zurückzukehren. Die Zeit war gekommen, in der Marie ihre Mutter nicht mehr hatte ausreden lassen.
    Â»Natürlich pass ich auf mich auf«, war sie ihr ins Wort gefallen. »Aber du musst auch auf dich aufpassen.«
    Sie hatten es sich gegenseitig versprochen. Und dann hatte sich Monique nicht an ihr Versprechen gehalten. Sie hatte auf einer Landstraße angehalten, um einem angefahrenen Kaninchen zu helfen. Und war von einem Auto, das sie übersehen hatte, erfasst worden.
    Noch immer zog es Marie jedes Mal das Herz zusammen, wenn sie sich an den Anruf aus dem Krankenhaus erinnerte, in dem ihr ein fremder Arzt mitteilte, dass ihre Mutter gerade in die Klinik eingeliefert worden war, man sie aber leider nicht habe retten können. Monique Lamare war mit 55 Jahren gestorben. Viel zu jung. Viel zu früh. Marie hatte nicht nur ihre Mutter verloren, sondern auch ihre beste Freundin. Plötzlich stand sie allein da. Doch sie gestattete es der Trauer, die sie in eine dunkle Wolke der Einsamkeit zu hüllen drohte, nicht, die Oberhand in ihrem Leben zu gewinnen. Auch weil sie wusste, dass ihre Mutter das nicht gewollt hätte. Monique hatte versucht, ihre Tochter zu einer starken, selbstbewussten, lebensbejahenden jungen Frau zu erziehen. Und in diesen Tagen der Verzweiflung und des Unbehaustseins zeigte es sich, dass es ihr gelungen war. Am Grab ihrer Mutter in dem alten, verwunschenen Friedhof auf einem Hügel über Colmar, von dem man weit in das grüne Land sehen konnte, versprach Marie ihrer Mutter, dass sie sich jetzt nicht aufgeben würde. Sie versprach, dass sie jeden Tag ihres Lebens bewusst und neugierig angehen und das Bestmögliche aus dem machen würde, was ihre Mutter ihr mitgegeben hatte.
    Â»Ich versprech dir, ich pass auf mich auf.« Marie lächelte ihrer Mutter zu, schlüpfte in ihre Uniformjacke, schloss die Balkontür, nahm die kleine gepackte Reisetasche und verließ die winzige Dachwohnung. Sie bemerkte nicht, dass durch den Schwung, mit dem sie die alte Holztür hinter sich zuknallte, das blaue Büfett erzitterte. Das Foto von Monique trudelte zu Boden. Langsam, wie die gelben Blätter des Ahorns, der vor Maries Haus stand. Marie, die das dunkle Treppenhaus, wie immer zwei Stufen nehmend, hinuntereilte, hielt auf dem Treppenabsatz zwischen dem dritten und dem zweitem Stock plötzlich inne. Stand einen Moment still. Lauschte. War da nicht ein Geräusch gewesen? Wie ein weit entfernter Schrei? Doch da war nichts zu hören. Als sie etwas am Bein berührte, zuckte sie zusammen. Doch es war nur Miou, die Katze von Madame Pigall aus dem Dritten, die vorwurfsvoll maunzend zu ihr hochsah.
    Â»Miou, ich hab heute nichts für dich. Tut mir leid.« Erleichtert streichelte sie kurz über das glänzend schwarze Fell der Katze, das sich knisternd aufrichtete. »Wenn ich aus London zurück bin, gibt’s was Leckeres. Versprochen.«
    Als sie eine halbe Minute später zu Jean Marais in den
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