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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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sagte ich.
    »Wirklich nicht?«
    »Wirklich nicht. Warum sollte ich dich unbedingt umbringen wollen?«
    »Auch wieder wahr«, musste sie zugeben. »Ich dachte nur, wäre nicht schlecht, wenn mich jemand umbrächte. Wenn ich grad fest schlafe oder so.«
    »Ich bin doch nicht der Typ, der Leute umbringt!«
    »Nicht?«
    »Ich glaube nicht.«
    Sie lachte, drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, trank in einem Zug den restlichen Tee und zündete sich eine neue Zigarette an.
    »Ich lebe bis fünfundzwanzig«, sagte sie. »Dann sterbe ich.«
    * * *
    Sie starb im Juli 1978 mit sechsundzwanzig.

ZWEITES KAPITEL
    Juli 1978
    1. SECHZEHN SCHRITTE
    Ich wartete, bis das Zischen des Kompressors, mit dem sich die Aufzugtür schließt, hinter mir zu vernehmen war, dann schloss ich die Augen. Ich kratzte die Bruchstücke meines Bewusstseins zusammen und tat sechzehn Schritte über den Hausflur auf die Wohnungstür zu. Mit geschlossenen Augen sind es genau sechzehn Schritte, nicht mehr und nicht weniger. Vom Whiskey war mein Kopf so unbrauchbar wie eine überdrehte Schraube, im Mund hatte ich Teergeschmack von den Zigaretten.
    Trotzdem, egal wie besoffen ich bin, die sechzehn Schritte kann ich mit geschlossenen Augen immer noch so gerade gehen wie auf einer mit dem Lineal gezogenen Linie. Die Frucht jahrelanger sinnloser Selbstzüchtigung. Jedes Mal, wenn ich besoffen bin, nehme ich Haltung an, hebe den Kopf und atme tief die Morgenluft und den Betongeruch des Hausflurs ein. Dann schließe ich die Augen und gehe im Whiskeynebel sechzehn gerade Schritte.
    In dieser Welt der Sechzehn Schritte kommt mir der Titel »Manierlichster aller Besoffenen« zu. Ganz einfach: Man muss nur die Tatsache des Besoffenseins als solche anerkennen.
    Da gibt es kein »Wenn« und »Aber«, kein »Obwohl« und »Trotzdem«. Ich bin schlicht und einfach besoffen.
    Auf diese Weise werde ich zum Manierlichsten aller Besoffenen. Ich werde zum allerersten Vogel am Morgen und zum allerletzten Güterwaggon, der über die Eisenbahnbrücke fährt.
    Fünf, sechs, sieben …
    Nach dem achten Schritt blieb ich stehen, öffnete die Augen und atmete tief ein. Leichtes Ohrensausen. Wie Seewind, der durch einen verrosteten Drahtzaun pfeift. Da fällt mir ein, am Meer bin ich schon lange nicht mehr gewesen.
    24. Juli, 6.30 Uhr morgens. Die ideale Jahres- und Uhrzeit, ans Meer zu fahren. Der Strand ist noch von niemandem verdreckt. Dort, wo die Wellen anschlagen, die Spuren von Seevögeln, zerstreut wie vom Wind abgeschüttelte Tannennadeln.
    Meer?
    Ich begann wieder zu gehen. Komm, vergiss das Meer. Alles Schnee von gestern.
    Nach dem sechzehnten Schritt blieb ich stehen und machte die Augen auf: Ich stand genau vor dem Türgriff, wie immer. Ich nahm die Zeitungen von zwei Tagen und zwei Umschläge aus dem Briefkasten und klemmte sie mir unter den Arm. Dann kramte ich meinen Schlüsselbund aus dem Labyrinth der Hosentasche und lehnte die Stirn eine Zeit lang an die kühle Eisentür, die Schlüssel in der Hand. Hinter meinem Ohr schien es leise zu klicken. Mein Körper war mit Alkohol voll gesogen wie ein Waschlappen. Verhältnismäßig klar war nur mein Bewusstsein.
    Oh Mann.
    Tür etwa 1/3 öffnen, Körper durchzwängen, Tür schließen. In der Diele war es still. Zu still.
    Da bemerkte ich vor meinen Füßen die roten Pumps. Vertraute rote Pumps. Zwischen den verdreckten Tennisschuhen und den billigen Strandsandalen sahen sie aus wie ein vergessenes Weihnachtsgeschenk. Umhüllt von feinstaubiger Stille.
    Sie saß vornübergebeugt am Küchentisch, die Stirn auf die Arme gelegt, das glatte schwarze Haar verdeckte ihr Profil. Zwischen den Haaren konnte ich ihren weißen Nacken sehen. Aus dem Ärmel ihres bedruckten Kleides, an das ich mich nicht erinnern konnte, schaute ein Träger ihres BH s heraus.
    Während ich mein Jackett und die schwarze Krawatte auszog und die Armbanduhr ablegte, bewegte sie sich kein bisschen. Der Anblick ihres Rückens rief Erinnerungen wach. Erinnerungen aus der Zeit, bevor ich sie traf.
    »Hallo«, versuchte ich sie anzusprechen. Das klang nicht nach mir, sondern hörte sich an, als ob jemand von irgendwo weit weg eigens herüberriefe. Wie erwartet, keine Antwort.
    Sie sah aus, als ob sie schliefe, aber auch, als ob sie weinte, und außerdem, als ob sie tot wäre.
    Ich setzte mich ihr gegenüber und hielt mir die Hand vor die Augen. Das helle Sonnenlicht teilte den Tisch. Ich war im Licht, sie im dünnen Schatten. Schatten ohne Farbe.
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