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Wilde Schafsjagd

Wilde Schafsjagd

Titel: Wilde Schafsjagd
Autoren: Haruki Murakami
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und steige an irgendeinem Bahnhof aus. Eine verlassene Gegend, kein Haus, kein Licht. Nicht einmal ein Bahnbeamter. Keine Uhr, kein Fahrplan, rein nichts.
    In dieser Phase habe ich sie hart angefasst, glaube ich. Ich kann mich jetzt nicht mehr genau erinnern, wie. Vielleicht habe ich mich eigentlich auch nur selbst treffen wollen. Jedenfalls hat sie das in keiner Weise gekümmert. Oder (drastisch ausgedrückt) sie hat ziemlichen Spaß daran gehabt. Warum, weiß ich nicht. Zärtlichkeit war es demnach jedenfalls nicht, was sie von mir wollte. Wenn ich daran denke, befällt mich heute noch ein seltsames Gefühl. Eine Trauer und ein Schmerz, als stieße ich mit der Hand an eine unsichtbare, schwebende Wand.
    * * *
    Noch heute erinnere ich mich genau an jenen merkwürdigen Nachmittag des 25. November 1970. Vom heftigen Regen heruntergerissene Ginkgo-Blätter färbten die Waldwege gelb wie ausgetrocknete Bäche. Die Hände in den Manteltaschen, spazierten wir immer wieder dieselben Wege entlang. Außer dem Rascheln des Laubes unter unseren Schritten und Vogelgekreisch war nichts zu hören.
    »Was beschäftigt dich eigentlich die ganze Zeit?«, fragte sie mich plötzlich.
    »Nichts Besonderes«, sagte ich.
    Sie ging ein bisschen vor, dann setzte sie sich am Wegesrand hin und rauchte eine Zigarette. Ich setzte mich neben sie.
    »Hast du immer Albträume?«
    »Ich habe oft Albträume. Meistens geht es darum, dass Automaten mein Wechselgeld nicht rausrücken wollen.«
    Sie lachte, legte ihre Hand auf mein Knie und zog sie dann wieder zurück.
    »Du willst bestimmt nicht darüber reden, oder?«
    »Ich kann bestimmt nicht gut darüber reden.«
    Sie warf die halb gerauchte Zigarette auf die Erde und trat sie mit dem Turnschuh sorgfältig aus.
    »Was man wirklich sagen will, lässt sich nie leicht ausdrücken, findest du nicht?«
    »Weiß ich nicht«, sagte ich.
    Zwei Vögel erhoben sich flatternd vom Boden und verschwanden, als würden sie vom leeren Himmel aufgesogen. Wir sahen ihnen eine Zeit lang schweigend nach. Dann ritzte sie mit einem dürren Zweig ein paar sonderbare Figuren in den Boden.
    »Wenn ich mit dir schlafe, werd ich manchmal ganz traurig.«
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Nein, es ist nicht deine Schuld. Es liegt auch nicht daran, dass du an eine andere denkst, wenn du mich in die Arme nimmst. Das ist mir egal. Ich …« Sie verstummte plötzlich und zog langsam drei parallele Linien auf den Boden. »Ach, ich weiß nicht.«
    »Ich will mich nicht absichtlich von dir abkapseln«, sagte ich nach einer Weile. »Ich begreife nur selbst noch nicht ganz, was los ist. Ich möchte verschiedenen Dingen möglichst gerecht werden. Ich möchte nichts übertreiben und auch nicht, dass alles übermäßig real wird. Aber das braucht Zeit.«
    »Wie viel Zeit?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Kann ich nicht sagen. Ein Jahr, vielleicht auch zehn.«
    Sie warf den Zweig auf den Boden, stand auf und klopfte sich das trockene Gras vom Mantel. »Zehn Jahre – das hört sich ja wie eine Ewigkeit an, findest du nicht?«
    »Hm, ja«, sagte ich.
    Wir gingen durch den Wald zum Campus, setzten uns wie immer in die Cafeteria und verdrückten Hot dogs. Es war zwei Uhr nachmittags, und im Fernseher zeigten sie ständig Yukio Mishima. Da die Lautstärkenregelung nicht funktionierte; konnten wir kaum verstehen, was gesagt wurde, aber das war uns sowieso egal. Nach den Hot dogs genehmigten wir uns noch eine Tasse Kaffee. Ein Student stieg auf einen Stuhl und fummelte eine Weile an der Lautstärke herum. Dann gab er auf, stieg herunter und verschwand.
    »Ich will dich«, sagte ich.
    »In Ordnung«, sagte sie und lächelte.
    Die Hände in den Manteltaschen gingen wir langsam zu meinem Zimmer zurück.
    Als ich aufwachte, weinte sie still vor sich hin. Ihre schmalen Schultern zitterten unter der Decke. Ich zündete den Ofen an und sah auf die Uhr. Zwei Uhr früh. Mitten im Himmel hing ein vollkommen weißer Mond.
    Ich wartete, bis sie aufgehört hatte zu weinen, kochte Wasser und goss uns eine Tasse Beuteltee auf. Ohne Zucker, ohne Zitrone, ohne Milch, einfach nur heißen Tee. Ich zündete zwei Zigaretten an und gab ihr eine. Sie inhalierte tief und stieß den Rauch aus. Nach drei solchen Zügen musste sie husten.
    »Hast du schon mal den Wunsch gehabt, mich umzubringen?«, fragte sie.
    »Dich?«
    »Ja.«
    »Wieso fragst du das?«
    Sie rieb sich mit den Fingerspitzen die Augen, die Zigarette noch im Mund.
    »Nur so.«
    »Nein, hab ich nicht«,
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