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Wilde Flucht

Wilde Flucht

Titel: Wilde Flucht
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Stewie blieb am oberen Treppenabsatz.
    Joe stellte sich mit dem Rücken vor die leicht geöffnete Tür, fuhr herum, stieß sie mit dem Fuß auf und trat ein. Glühende Panik stieg ihm in die Kehle, als er begriff, dass der Mann, den er den Mercedes an der Straße in den Bergen hatte kaputtmachen sehen, dass also Charlie Tibbs nur einen Meter entfernt auf einem alten Messingbett auf dem Rücken lag.
    Tibbs lag vollständig bekleidet auf einer ramponierten und ausgeblichenen Steppdecke. Er hatte seine Stiefel nicht ausgezogen. Joe sah ihre schlammigen Sohlen wie ein V vor sich. Der gute alte Charlie hatte den Kopf, auf dem noch sein Stetson saß, auf dem Kissen zur Seite gewandt, und sein Gesicht war käsig weiß gesprenkelt. Sein Mund war leicht geöffnet, und Joe sah seine trockne braune Zungenspitze. Seine strahlend blauen Augen, deren Blick so stechend gewesen war, standen offen, waren aber trüb und wirkten wie angelaufen. Oberhalb der Brusttasche von Tibbs’ Hemd war eine ausgeprägte Delle, und inmitten dieser Delle befand sich ein schwarzes Loch. Ein Spinnennetz aus Blut war durch den Hemdstoff gedrungen und getrocknet.
    Klopfenden Herzens senkte Joe vorsichtig die Waffe und trat neben ihn. Tibbs war ein schwerer Mann, kantig und ungeschlacht. Seine großen Hände lagen zur Zimmerdecke geöffnet neben den Oberschenkeln. Joe hielt ihm den Handrücken vor Nase und Mund: keine Atmung. Er berührte ihn mit den Fingerspitzen am Hals. Der war klamm, aber noch nicht kalt oder steif – Charlie Tibbs war nicht mal eine Stunde lang tot.
    Joe drehte ihn etwas auf die Seite. Die Decke unter ihm war von dunklem Blut durchnässt, denn die Kugel hatte ihm am Rücken eine mächtige, ausgefranste Austrittswunde geschlagen. Es roch erstickend nach Blut, und Joe musste an den Gestank schlecht getroffner oder schlecht ausgeweideter Großwildkadaver denken, die er in der Jagdsaison mitunter zu sehen bekam. Joe wunderte sich, wie Tibbs es geschafft hatte, wieder zum Wagen zu reiten, den Pferdehänger abzukoppeln und den ganzen Weg zurück zur Finotta-Ranch zu fahren, um dort zu sterben.
    So ein Glückstreffer!, dachte er.
    » Du hast meine Lizzie erschossen, du Dreckskerl«, flüsterte er. » Solltest du ihr im Jenseits begegnen, tritt sie dir hoffentlich die Eingeweide aus dem Leib.«
    Dann rief er Stewie, der inzwischen im Flur stand, zu: » Er ist hier, und zwar tot!«
    » Charlie Tibbs?«
    » Genau der.« Joe schob seinen Revolver ins Holster. Plötzlich fühlte er sich sehr schwach, und ihm war übel. Er stierte Tibbs ins Gesicht und versuchte, darin etwas wie Nachdenklichkeit, Milde oder Demut zu entdecken. Etwas Versöhnendes. Doch alles, was er sah, war eine von Jahren bitterer Entschlossenheit gezeichnete Miene.
    » Gut«, sagte Stewie von der Schwelle her, nachdem er die Szene lange genug studiert hatte, » Charlie Tibbs ist also tot. Aber warum ist er hier?«
    Joe blickte auf. Er wusste es nicht, doch er hatte eine Ahnung.
    Joe erinnerte sich, im dunklen Flur an einem Telefon vorbeigekommen zu sein. Es war ein altertümlicher, an der Wand befestigter Apparat mit Wählscheibe, der vor vielen Jahren wohl für die Landarbeiter angebracht worden war, die auf Finottas Hobbyranch längst nicht mehr gebraucht wurden.
    Als er mit Stewie den Berg heruntergekommen war, hatte Joe sich immer wieder vorgesagt, mit welchen Worten er sich bei Marybeth melden wollte. Er würde ihr sagen, wie sehr er sie liebe, wie sehr er sie vermisse, wie gern er die Kinder habe und dass er sich nie wieder ohne Verstärkung dem Aufenthaltsort eines Verdächtigen nähern werde. Es war Joe sogar egal, ob Stewie dann danebenstand und mithörte; seine Gefühle waren aufrichtig und kochten in ihm.
    Er nahm den Hörer ab und wollte wählen, als Stimmen aus der Leitung drangen: Es war ein Gemeinschaftsanschluss, und er war vermutlich mit dem Ranchhaus verbunden.
    » Was war das?«, fragte jemand. » Ist da wer ans Telefon gegangen?«
    » Ich hab nichts gehört«, sagte eine andere Stimme.
    » Ich hab ein Klicken gehört«, erklärte eine weitere, tiefere Stimme.
    » Keine Sorge, Gentlemen«, sagte jemand, den Joe sofort als Jim Finotta erkannte. Er klang lauter und war besser zu verstehen als die anderen, denn er war ganz in der Nähe. » Ich bin allein hier, also kann es nicht bei mir sein. Diese Kabel sind alt.«
    Finotta hatte das unbenutzte Telefon im Nebengebäude offenkundig längst vergessen.
    Stewie beugte den Kopf ganz nah an Joes Gesicht heran, um
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