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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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wärmen. Trotzdem wollte ich nicht glauben, was ich sah.
    Vor allem wollte ich nicht glauben, dass ich immer noch lebte.
    »Bleib bei mir«, flüsterte ich. Ich dämpfte meine Stimme, denn keinen Moment vergaß ich, dass ich nicht allein war. Irgendwo, ganz in der Nähe, lauerte Happiness Zuckermann auf meine Freunde.
    »Bleib.«
    Zu spät, sagten die klaren Gedanken. Sie sprachen nicht mehr mit Orions Stimme. Orion war weit fort. Hier waren nur ich und mein Fehler, mein schrecklicher Fehler. Begreifst du es?
    Nein, sagte ich. Ich kann nicht.
    Es war nicht zu begreifen.
    Ich lag neben ihm und verstand nur, dass die Kälte durch die Decke drang, dass sie von Lucky ausging, dass sie nach mir griff, durch die Kleidung bis auf die Haut, eine Eiseskälte, gegen die ich machtlos war. Nicht, dass ich mich überhaupt dagegen wehren wollte. Ich wollte ihm folgen, wünschte mir mehr als alles, dass die Kälte mich zu ihm brachte. Es gab keinen Grund, weiterzuleben.
    Heute würde ich der Schwan sein, der nicht losflog, um sich zu retten, der sich verführen ließ. Lucky war das Eis, das sich um mich legte, mich festhielt.
    Bist du verrückt?, sagten die klaren Gedanken mit meiner eigenen Stimme. Eine Mädchenstimme, zugleich fremd und vertraut, als gehörte sie meiner besten Freundin.
    Nein. Ich bin nur müde.
    Natürlich bist du müde. Dir steckt die Krankheit noch in den Knochen. Aber du lebst, das Fieber ist gesunken. Trink etwas. Iss etwas. Du lebst, und da hinten im Gebüsch sitzt Happiness Zuckermann und wartet auf Alfred, der dir zur Hilfe eilt. Und du brauchst tatsächlich Hilfe, das müsste dir klar sein. Ich verfluchte meine Gedanken, aber sie sprachen sehr deutlich. Sie sagten: Es gibt ein paar Dinge, die du tun musst, um zu überleben.
    Ich wollte nicht überleben, aber das ließen die Gedanken nicht gelten.
    Ruf an, befahlen sie. Und dann wirfst du deinen Tom in den Sumpf.
    Und weil ich nicht gehorchen wollte, sprachen sie mit Gabriels Stimme. Gabriel war der Anführer all derer, die gegen die Jäger kämpften, daher blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Ich war zu benommen, um mich zu wehren, also nahm ich den Tom und wählte Orions Nummer.
    Gabriels Stimme klang anders durch das Gerät, und doch erkannte ich sie sofort. Schließlich hatte ich sie eben noch im Kopf gehabt.
    »Wer ist da?«, fragte er.
    »Gabriel«, sagte ich. Ich wollte seinen Namen sagen, immer wieder. »Gabriel. Hier ist Pi. Ich meine, Pia.«
    »Ja?« Vorsichtig. Misstrauisch.
    »Ich bin dort, wo Helm und Jakob uns beim letzten Mal gefunden haben. Am Westtor.«
    »Nichts für ungut, aber das klingt nach einer Falle.«
    »Eine von den Regs, ja. Aber bis ihr hier seid, habe ich das Problem gelöst.«
    Er überlegte zwei, drei Sekunden lang.
    »Tu mir einen Gefallen und erfrier nicht. Wir kommen.«
    Danach warf ich den Tom in hohem Bogen weg. Der Aufprall auf dem Eis kam mir sehr laut vor in der Stille.
    Etwas raschelte im Gebüsch.
    Vermutlich wunderte sich Happiness Zuckermann gerade darüber, dass ich noch lebte.
    Am Abend zündete sie ein kleines Feuer an, nach dessen Wärme ich gierte. Aber ich hielt mich zurück. Zum Glück, denn ihr Feuer lockte wieder die Einzelgänger an, die sich hier herumtrieben.
    Ich hörte Stimmen. Dann einen Schuss. Happiness zielte genau, vergeudete keine Kugel. Eine Jägerin, was sonst? Alle Regs waren Jäger.
    Der Rest der Nacht verlief ruhig.
    Wie lange würden die Damhirsche brauchen, um herzukommen? Ich hatte nicht gefragt, wo das Lager war, weil ich davon ausgehen musste, dass wir abgehört wurden. Zwei Tage, drei? Wie lange konnte ich durchhalten, ohne zu erfrieren? Ich war immer noch schwach und konnte kaum ein paar Meter gehen, ohne hinzufallen. Gegen Mörder konnte ich mich nicht verteidigen, ich brauchte Happiness als Beschützerin. Aber ebenso brauchte ich ihr Feuer. Und ich konnte nicht riskieren, dass meine Freunde mit ihr aneinandergerieten.
    Die Decken um mich gewickelt, spürte ich das Fieber kommen und gehen. Die Kälte tat meiner heißen Stirn gut. Ich musste mich zwingen, wach zu bleiben.
    »Lucky«, flüsterte ich. »Der Winter tut weh, wusstest du das? Wusstest du, wie gefährlich eine einzige Nacht sein kann?« Ich sprach mit ihm, und er hörte mir zu aus seiner Dunkelheit.
    Vielleicht war ich mittlerweile ein bisschen verrückt.
    Am Morgen war die Welt seltsam blass. Hellblau und grau und weiß.
    Ich rappelte mich auf und stolperte los, auf das Gebüsch zu, in dem meine
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