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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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läuft uns davon. Sie fantasiert bereits. Sie sind der Einzige, der jetzt noch etwas tun kann, Dr. Friedrichs!«
    »Nein«, widerspricht er ihr. »Weder ich noch sonst jemand kann den Kindern helfen. Das ist nicht Morbus Fünf. Aus meinem Labor ist eine Probe eines weiterentwickelten Virenstammes verschwunden. Morbus Sechs, Frau Zuckermann. Dagegen wirkt rein gar nichts. Sie können die beiden höchstens noch zum Sterben in die Wildnis schicken.«
    Sie denkt nach. »Haben die zwei noch genug Zeit, um das Lager zu finden? Peas glaubt, Dr. Mackintosh könnte ihr helfen. Wäre es möglich, dass sie die Krankheit zu den Wilden bringt?«
    Mehr höre ich nicht. Als Nächstes öffne ich die Augen und mein Vater beugt sich über mich. Ich erkenne seine Augen über dem Mundschutz.
    »Peas«, sagt er eindringlich. »Hör mir gut zu. Man wird euch jetzt vors Tor bringen. Lucky geht es schlechter als dir. Du musst ihn zurücklassen, dann hast du eine Chance.«
    »Ich komme mit«, sagt eine weitere Stimme. Noch jemand ist hier. Flüchtig erkenne ich einen Schimmer blonder Haare, das Aufblitzen arroganter eisblauer Augen.
    Mein Vater dreht sich um.
    »Was tun Sie hier, Herr Mozart? Raus! Sind Sie wahnsinnig?«
    »Überlassen Sie das den Experten«, sagt Happiness Zuckermann. »Bitte, Herr Mozart, seien Sie vernünftig.«
    »Ach, den Experten.« Wilder Hohn schwingt in den Worten mit. »So wie Sie?«
    Es gibt ein Handgemenge, ein Poltern. Irgendwann tritt wieder Ruhe ein. Lucky seufzt in mein Ohr, und in seiner Umarmung falle ich immer tiefer in meine Träume hinein.
    Wenn es doch ein geheimes Mittel gegen Morbus Fünf gibt, vielleicht ist Luther auch an Morbus Sechs gestorben?, fragen die klaren Gedanken. Sie sind leise geworden, manchmal kann ich sie kaum hören. Sie sprechen in vielen verschiedenen Stimmen, die mich verwirren. Aber das hier ist Orions Stimme, und sie trägt mich mit starken Armen, sie ist wie ein Helikopter, der mich über den Wald schweben lässt, dorthin, wo ich hingehöre. Seine Stimme ist da und sagt: Flieg, mein Schwan, flieg, aber ich habe keine Flügel, mit denen ich fliegen könnte.
    Ich drehe mich um und berühre Luckys Wange. Seine Lippen sind aufgeplatzt und bluten. Seine Stirn ist feucht und kalt, und er zittert.
    »Lucky«, sage ich.
    Welcher Tag ist heute? Wie viel Zeit haben wir noch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nichts mehr über die Zeit.
    Hör auf zu rechnen, sagen meine Gedanken. Du hast keine fünf Tage. Luther ist nach zwei Tagen gestorben, schon vergessen? Vergiss alles, was du über Morbus Fünf weißt, das hier ist etwas ganz anderes, es ist viel tödlicher und gefährlicher. Alfreds Genialität nützt dir nichts. Du wirst sterben.
    Mein Verstand weiß es. Auch mein Körper, zitternd und schwach und elend, weiß Bescheid.
    Der Tod ist keine Krankheit. Er ist rein und sauber und hell, ohne Hitze oder Kälte oder Krankheit. Er ist dunkel wie die Nacht. Glänzend wie das Sonnenlicht.
    Sieben wilde Schwäne, singt Jeska. Fliegen in den Himmel, sie fliegen in den Himmel.
    Ich wünschte nur, ich hätte Lucky nicht geküsst.
    Er öffnet die Augen. »Pi«, wispert er.
    Das Fieber hat alles Glück aus seinen Adern gebrannt. Er hat den Strom verlassen. Er sieht mich durch Schmerzen und Fieber hindurch an, und doch ist sein Blick klarer als jemals zuvor.
    »Wie schön, ein Abenteuer mit dir zu erleben.« Er lacht, es ist nur ein Röcheln, das in einem krampfartigen Husten endet.
    Der Wagen ist geschlossen, hat keine Fenster. Niemand fasst uns an. Alle tragen Anzüge und Masken. Erst als wir aus dem Transporter stolpern und ich den Sumpf vor uns liegen sehe, weiß ich, wo wir sind. Es ist Nacht, der Suchscheinwerfer gleitet über die hügelige Landschaft aus Grasbüscheln und Tümpeln.
    »Raus hier«, schreit jemand. »Geht! Na los, wird’s bald!«
    Ich fasse nach Luckys Hand, und gemeinsam, einander stützend, taumeln wir durchs Tor.

37.
    Eine dünne Schicht Schnee lag über allem, und unser Atem gefror in der Luft. Wir hatten beide eine Wolke, ich musste darüber lachen, und dann fielen wir hin, weil der Untergrund so glatt und rutschig war, vielleicht waren wir aber auch einfach zu schwach, um geradeaus zu gehen.
    »Es geht schon«, sagte Lucky, obwohl wir beide wussten, dass es nicht ging.
    In der Tasche meines langen, warmen Kids-for-freedom-Mantels fand ich eine Lampe. Was für ein schöner Mantel. Ich hatte ihn an jenem Abend bekommen, als ich mit Lucky auf dem Dach gewesen war. Für zwei
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