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Wild (German Edition)

Wild (German Edition)

Titel: Wild (German Edition)
Autoren: Lena Klassen
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diesen Nachmittag erinnern. Die schnelle Fahrt, alles verwischte vor meinen Augen. Das Grasland. Die Hochhäuser. Der leicht irritierte Blick der Verkäuferin, in dem ich ihre Verwunderung las, dass jemand wie ich Kleider anprobierte, die für maßgeschneiderte Körper entworfen worden waren. Moons Versuche, den Preis runterzuhandeln, damit sie sich für irre viel Geld nicht bloß ein Halstuch ihrer Lieblingsmarke Kids-for-freedom, sondern auch noch einen passenden Armreif leisten konnte.
    Das Café, das Eis, das kühl in meinem Mund schmolz.
    Die Fahrt zurück. Ein Wirbel aus dem Grau der Straße und dem blassblauen Himmel über uns. Als wir zu Hause ankamen, war mir schlecht. Vielleicht hätte ich mich lieber schonen sollen, immerhin war ich verletzt.
    »Hier«, sagte Moon und drückte mir einen Lippenstift in die Hand. »Schenk ich dir.«
    Er hatte denselben Farbton wie die Bluse, die sie mir ausgesucht hatte, und duftete dezent nach Mango-Eis.
    »Wann hast du den denn gekauft?«, fragte ich und forschte in meinem Hirn nach der Information, die ich im Halbschlaf sicher verpasst hatte.
    Moon zuckte die Achseln. »Den hab ich so mitgenommen.«
    »Du hast …? Schon wieder?«
    Der neue Mensch begeht keine kriminellen Handlungen, denn Verbrechen beruhen auf Gier und Leidenschaft, auf Aggression und Hass auf die Gesellschaft. Kleine Regelwidrigkeiten waren jedoch Moons Spezialität.
    »Oh«, sagte ich.
    Moon lächelte liebreizend. »Ich habe halt eine kleine Schwäche für Lippenstifte. Und niemand hat was gemerkt. Den hier hab ich für mich mitgenommen«, – sie zeigte mir einen in Himbeerrosa –, »und diesen für dich. Du hast doch kein Problem damit?«
    »Aber Moon«, protestierte ich schwach. »Am Ende landest du noch vor mir in der Wildnis.«
    Moon beugte sich vor den Spiegel und trug den geklauten Lippenstift geradezu triumphierend auf. »Nur wenn es ansteckend ist«, sagte sie. »Sie schmeißen mich nur raus, wenn ich eine Gefahr für andere bin.«
    Ich verspürte jedoch nicht das geringste Bedürfnis, Lippenstifte zu klauen, und das sagte ich auch. Ich war lange nicht so mutig und unbekümmert wie sie.
    »Na, dann ist ja alles in Ordnung. So, zu unserem Aufsatz. Wie lautete das Thema noch mal?«
    Das meiste schrieb sie. Und ich kopierte es und formulierte es einfach etwas um.
    Vielleicht war Klauen doch eine ansteckende Krankheit, aber dann hatte sie an unserer Schule so gut wie jeder.
    »Wahrheit oder Pflicht.«
    Schalom versetzte der Flasche eine kräftige Drehung. Sie wirbelte ein paar Mal um ihre eigene Achse und zeigte dann auf … Moon.
    Moon kicherte. »Äh … Wahrheit?«
    »Was möchtest du mal werden?«, fragte Merkur.
    Die anderen stöhnten. »Ist dir keine bessere Frage eingefallen? Frag sie, in wen sie verliebt ist! Frag sie nach dem ersten Mal!«
    »Ach, ich nehme Merkurs Frage«, sagte Moon und schenkte ihm ihr wunderschönstes Lächeln. »Ich wette, da seid ihr überrascht.«
    »Kosmetikerin«, vermutete Charity, die sich nicht vorstellen konnte, dass jemand freiwillig einen anderen Beruf ergreifen wollte.
    »Kleiner Irrtum.« In Moons Augen trat ein Funkeln. »Ich werde Embryologin. Das ist die Zukunft.«
    »Wow«, sagte Peace ehrfürchtig.
    »Können wir nicht …« Charity wies ungeduldig auf die Flasche.
    Merkur hörte sie gar nicht. »Gestern noch hat Venus« – das war unsere Biologielehrerin – »gesagt, dass Geburtstechnik bald überflüssig sein wird. Ein paar Generationen ohne Aggressionen, und das Gedächtnis an den Krieg ist aus unseren Zellen getilgt. Man muss das Erbgut nicht verändern.« Merkur war der Klassenbeste in Biologie und Technik und offensichtlich fassungslos, dass jemand wie Moon in sein Gebiet eindringen wollte.
    »Muss man doch«, widersprach Moon. »Beides ist gleich wichtig, und das weiß ja wohl jeder.«
    Charity stöhnte auf. »Weiter. Spielen wir hier oder wird das eine Diskussionsrunde?«
    Moon zwinkerte Lucky zu, packte die Flasche und versetzte ihr eine gekonnte halbe Drehung.
    »Das hast du extra gemacht!« Da hatte Lucky natürlich recht. Moon sorgte regelmäßig dafür, dass die Flasche genau auf die Person zeigte, die ihrer Meinung nach drankommen sollte.
    »Wahrheit oder Pflicht?«, fragte Schalom. »Und beeil dich, gleich ist die Pause zu Ende.«
    Lucky grinste. »Pflicht.« Wahrheiten bekam man nur schwer aus ihm heraus.
    »Küssen!«, riefen Peace und Charity unisono. »Du musst jemanden küssen!«
    Und Charity fügte hinzu: »Aber nicht Moon.
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