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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen
Autoren: Iris Strohschein
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Standkreuze aus allen erdenklichen Materialien und in den verschiedenartigsten Stilen ausgestellt. Eine Reihe darunter befanden sich Monstranzen. Ein Platz war leer, hier musste das gestohlene Stück gestanden haben. Rosa trat zum Fenster und las im Katalog den Text, der neben dem Bild des Diebesgutes stand: »Kupfer, vergoldet, auf ovalem, gewölbtem Fuß, kurzer Spulenschaft mit Nodi, ovales Fenster von Strahlenkranz und durchbrochener Kartusche aus Muschelwerk und Blüten hinterfangen. Rückdeckel und Halterung für die Oblate, Schrauben erg., süddeutsch, 18. Jahrhundert. H. 32 cm. Schätzwert: € 7.000.«
    Dann ging sie die aufgelisteten Monstranzen der Reihe nach durch und schüttelte verständnislos den Kopf. Der Dieb hatte tatsächlich das Stück mitgenommen, das am wenigsten wert war, und hatte eine Monstranz aus dem 13. Jahrhundert, die mit dreißigtausend Euro veranschlagt war und direkt neben dem nun leeren Platz stand, zurückgelassen.
    »Na, wenn das kein Auftragsdiebstahl war, dann weiß ich nicht«, murmelte sie.
    Rosa setzte ihre Begutachtung der Wohnung fort. Von der Decke hing ein wertvoll gearbeitetes Weihrauchfass. Im dritten Raum waren an einer Wand Halterungen befestigt, in denen verschiedene kleinere liturgische Geräte aufbewahrt wurden. Sie zählte drei Messkännchen, fünf Ziborien – Trinkbecher mit Deckel, in denen die geweihten Hostien aufbewahrt werden – und zwei Abendmahlkelche. Eine Halterung war leer, hier dürfte das Aspergill, mit dem Friedrich Kobald erschlagen worden war, gehangen haben. Rosa schluckte. Sie war von den hier ausgestellten Kunstgegenständen so beeindruckt gewesen, dass sie vollkommen vergessen hatte, dass in diesen Räumen ein Mann umgebracht worden war.
    Was haben all diese Statuen gesehen? Was ist hier passiert?, dachte sie und ließ ihren Blick zu den beiden Flügelfenstern schweifen. Verblüfft starrte sie auf eine vollständige barocke Kanzel, die zwischen ihnen stand. Rosa schätzte, dass sie aus dem 16. Jahrhundert stammte. Sie fragte sich, wie man die wohl in die Wohnung transportiert hatte.
    Langsam ging sie zu dem Bild der Pietà von Andres Serrano, einem kontroversiellen Künstler, der es sich mit seinen Darstellungen mit der katholischen Kirche verscherzt hatte, und blieb lange davor stehen. Rosa bedauerte es sehr, Friedrich Kobald nicht besser gekannt zu haben, sie hätte gern mit ihm über seine Beweggründe, eine solche Sammlung anzulegen, gesprochen. Als sie sich umdrehte, erstreckten sich die drei Zimmer, die sie durchschritten hatte, vor ihr. Eine Wand des dritten Raums, in dem sie nun stand, war bis über den Türstock von Ikonen bedeckt. Rosa zählte zwölf Stück.
    Liebhart trat zu ihr.
    »Wo hat man denn den Toten gefunden?«, fragte sie.
    »Im Vorzimmer, der Weihwassersprengel hat neben ihm gelegen.«
    Rosa atmete tief ein und zeigte auf die Ikonen. »Die von Andrzej ist nicht dabei.«
    Liebharts Telefon läutete, er nestelte es aus seiner Hosentasche und ging Richtung Vorzimmer. Kurze Zeit später kam er wieder und sagte zu Rosa: »Es tut mir leid, ich muss weg. Schurrauer kommt mit mir. Kommst du, nachdem du hier fertig bist, zu mir ins Büro?«
    Bevor sie antworten konnte, eilte er davon.
    Rosa wollte sich nicht auf Beschreibungen und Schätzungen der Gutachter, die im Katalog aufgelistet waren, verlassen, sondern sich ein eigenes Bild von den Ikonen machen. Sie kramte ihren Block aus der Tasche und machte sich Notizen. Zuerst unternahm sie eine Einteilung in Bildthemen. Friedrich Kobald hatte eine Vorliebe für das Dreifaltigkeitsmotiv gehabt. Sechs Ikonen mit dem Besuch der drei Männer, in denen frühe Kirchenväter den dreipersönlichen Gott gesehen hatten, hingen an der Wand. Rosa konnte eine von ihnen auf das Ende des 14. Jahrhunderts datieren. Bei den fünf anderen war sie sich weder in Bezug auf ihr Alter noch auf ihre Herkunft sicher. Drei Ikonen zeigten die Verkündigung der Geburt des Erlösers durch den Erzengel Gabriel.
    In der linken oberen Ecke hing ein Bild, das Rosa kannte. Ein Mandylion, die frontale Darstellung des Antlitzes Christi, von einem Tuch hinterlegt. Sie erinnerte sich, vor Jahren für einen Privatsammler in Hannover ein Gutachten zu dem Bild erstellt zu haben. Es war im 17. Jahrhundert in Russland gefertigt worden und besonders aufwendig gearbeitet. Der Blick Christi war nicht direkt auf den Betrachter gerichtet, schien ihm aber zu folgen. Die lange, schmale Nase und der kleine Mund unterstrichen
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