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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen
Autoren: Iris Strohschein
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produzieren. Manche sogar mit einem eingebauten   GPS -System.« Er redete sich in Fahrt. »Man macht ein Foto, hat den genauen Längen- und Breitengrad und kann sich die Eintragungen in eine Matrix sparen. Aber so etwas haben wir nicht, und bis die Bewilligung eines so teuren Gerätes den Behördengang durchlaufen hat, können wir das gesamte Areal mit einer einzigen Lupe absuchen.«
    Frau Grand riss die Tür auf, legte einen hohen Stapel Akten auf den nächsten und einzigen freien Stuhl im Zimmer und ging wortlos wieder hinaus.
    »Wie sieht es aus mit der Übersetzung des Tagebuchs von Zieliński?«, rief Liebhart ihr nach.
    »Das dauert noch, unser polnischer Übersetzer versinkt zurzeit in Arbeit.«
    »Na super«, meinte Liebhart zynisch. Er begann bereits wieder ungeduldig zu werden. »Hast du etwas über die Ikone auf dem Foto von Zieliński herausfinden können?«, wechselte er das Thema und sah Rosa an.
    Die Jalousien an dem großen Fenster konnten die Hitze, die von draußen hereindrang, nicht aufhalten.
    Rosa spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Sie zog die Kopien des Fotos aus der Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. »Es lässt sich kein Zusammenhang zwischen Andrzejs Ikone und einer der zwölf von Friedrich Kobald feststellen, weder was das Bildthema noch was den Herstellungsort betrifft. Ich kann anhand eines Fotos keine umfassende Analyse durchführen. Um mehr über die Ikone sagen zu können, müsste ich sie im Labor untersuchen. Abgesehen davon ist die Qualität des Fotos sehr schlecht. Ich habe mich trotzdem intensiv mit der Darstellung beschäftigt.«
    Liebhart nickte und signalisierte ihr fortzufahren.
    »Ich war heute Morgen bei Radoslav Beljajew, einem russisch-orthodoxen Priester, der an der Universität Vorlesungen über Ikonen hält. Er hat mir einiges zu deren spiritueller Bedeutung gesagt.«
    »Du hast ihm doch hoffentlich nichts Näheres über den Fall erzählt?« Liebharts Ton wurde scharf.
    »Ich mach das ja wohl nicht zum ersten Mal, oder?«, schnappte Rosa. Sie wollte einen eventuellen Wutanfall Liebharts gleich im Keim ersticken. »Bei dieser Muttergottesikone handelt es sich um eine ›Eleusa‹, griechisch ›Eleousa‹.«
    »Was ist das?«
    »Das griechische Wort ›Eleousa‹ meint auf Deutsch ›Die sich Erbarmende‹.«
    »Erbarmen für ihren Sohn?«
    »Nein. Der Sohn Gottes bedarf keiner Barmherzigkeit, er ist die Barmherzigkeit in Person. Die Muttergottes hat Erbarmen mit dem Menschengeschlecht.«
    Liebhart und Schurrauer sahen sie verständnislos an.
    »Wesentlich bei Marienikonen ist, dass sie unsentimental sein sollen. Das ist natürlich sehr schwierig, da es um die innige Darstellung einer Mutter-Sohn-Beziehung geht. Deswegen entwickelten sich im 13. Jahrhundert strenge Malvorschriften für die Gestaltung einer ›Eleusa‹, um die religiöse Würde des Bildthemas unangetastet zu lassen.«
    Liebhart beugte sich über das Foto und sah die Ikone lange an. »Ich finde, die Muttergottes hält ihren Sohn ausgesprochen liebevoll, und wie er sie mit der kleinen Hand an der Wange berührt …« Er richtete sich wieder auf und sah Rosa an. »Da hat sich der Künstler aber nicht an die Malvorschriften gehalten.«
    Rosa nickte und lächelte. »Genau das macht diese Ikone im heutigen Sinne ja auch so wertvoll. Du bist berührt, findest die Darstellung aber nicht kitschig. Die meisten Menschen sind heute nicht mehr so religiös wie vor siebenhundert Jahren. Sie sehen im Gesicht Marias nicht das Erbarmen mit dem Menschengeschlecht, sondern die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn. Das Besondere an dieser Ikone ist, dass der Maler es geschafft hat, diese Verbundenheit zeitlos wiederzugeben.«
    Liebhart nickte, Schurrauer strich sich nachdenklich das Kinn.
    Rosa ließ das Gesagte einen Moment wirken und fuhr dann fort. »Im Russischen wird dieser Bildtyp ›Umilenie‹ genannt. Das bezeichnet die Körperhaltung der abgebildeten Figuren. Das Kind schmiegt seine Wange eng an die seiner Mutter. Diese Darstellung ist besonders rührend, da das Jesuskind außerdem mit seiner kleinen Hand zärtlich das Gesicht Marias berührt.«
    »Was ist das in der linken Hand des Kindes?« Schurrauer deutete auf das Foto.
    »Das ist eine Buchrolle, ein Hinweis auf die spätere Verkündigung der Frohen Botschaft.«
    »Kannst du uns auch etwas über die Ikone sagen, was uns im Fall weiterhelfen könnte?«, wollte Liebhart wissen.
    »Ich kann nicht sagen, ob es sich um eine Fälschung handelt
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