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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Autoren: Eric Hobsbawm
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Weltwirtschaft. Paradoxerweise waren es diesmal die Kapitalisten und nicht die Sozialisten, die Marx für sich entdeckten: Die Sozialisten waren zu mutlos, den Jahrestag im großen Stil zu begehen. Ich erinnere mich, wie verwundert ich war, als mich eine Anfrage vom Redakteur des Bordmagazins von United Airlines erreichte, denn schließlich dürften die Leser dieser Zeitschrift zu 80 Prozent amerikanische Geschäftsreisende sein. Ich hatte einen kleinen Text über das Manifest geschrieben, und der Redakteur meinte, seine Leser hätten Interesse an einer Debatte über Marx’ Schrift, ob er deshalb einen Auszug aus meinem Text verwenden könne. Noch überraschter war ich, als mich irgendwann um die Jahrhundertwende George Soros beim Mittagessen fragte, was ich von Marx halten würde. Angesichts der bekannten Kluft, die unser beider Ansichten trennt, und um eine Auseinandersetzung zu vermeiden, gab ich eine ausweichende Antwort; Soros hingegen sagte: »Dieser Mann hat vor 150 Jahren etwas über den Kapitalismus herausgefunden, das wir zur Kenntnis nehmen müssen.« Das hatte er. Kurze Zeit später begannen Autoren, die, soweit mir bekannt, nie Kommunisten waren, sich erneut ernsthaft mit ihm auseinanderzusetzen, so etwa Jacques Attali in seiner neuen Studie zu Marx’ Leben. Auch Attali ist der Ansicht, Karl Marx habe denen, die sich für unsere Welt eine andere und, im Vergleich zu unserer heutigen, bessere Gesellschaftsordnung wünschen, noch viel zu sagen. Es ist gut, daran erinnert zu werden, dass wir auch in dieser Hinsicht an Marx heute nicht vorbeikommen.
    Im Oktober 2008, als die Londoner Financial Times mit der Schlagzeile »Capitalism in Convulsion« (Kapitalismus von Krämpfen geschüttelt) erschien, konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass Marx erneut die Bühne der Öffentlichkeit betreten hatte. Er wird diese Bühne wohl kaum wieder verlassen, solange der globalisierte Kapitalismus seine schwerste Erschütterung und Krise seit den frühen 1930er Jahren erlebt. Doch zugleich wird der Marx des 21. Jahrhunderts mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein völlig anderer sein als der des 20. Jahrhunderts.
    Im vergangenen Jahrhundert war die Perspektive auf Marx von drei Momenten abhängig. Das erste war die Aufteilung der Welt in Länder, in denen eine Revolution auf der Tagesordnung stand, und solche, in denen das nicht der Fall war, also grob gesagt der Unterschied zwischen den Ländern des entwickelten Kapitalismus auf beiden Seiten des Nordatlantik sowie den Ländern im pazifischen Raum und dem Rest. Das zweite Moment ergibt sich aus dem ersten: Marx’ Erbe mündete bekanntlich zum einen in eine sozialdemokratische und reformistische, zum anderen in eine revolutionäre, von der russischen Revolution übermächtig beherrschte Traditionslinie. Deutlich wurde das nach 1917, bedingt durch das dritte Moment, nämlich den Zusammenbruch des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, und das Hereinbrechen einer Epoche, die ich das »Zeitalter der Katastrophe« genannt habe, also die Zeit zwischen etwa 1914 und den späten 1940er Jahren. Jene Krise war so heftig, dass sie viele zweifeln ließ, ob der Kapitalismus sich jemals erholen würde. War der Kapitalismus nicht dazu bestimmt, durch eine sozialistische Wirtschaftsordnung ersetzt zu werden, wie Joseph Schumpeter, selbst beileibe kein Marxist, in den 1940ern prophezeite? Tatsächlich erholte sich der Kapitalismus, doch nicht in alter Form. Gleichzeitig sah es so aus, als wäre die in der UdSSR etablierte sozialistische Alternative gegen einen Zusammenbruch gefeit. Zwischen 1929 und 1960 schien einiges dafür zu sprechen – selbst für viele Nicht-Sozialisten, die die politische Gestalt der sozialistischen Regime missbilligten –, dass dem Kapitalismus die Luft ausgehe und die UdSSR in der Lage sei, ihn, was die Produktion anbelangt, hinter sich zu lassen. Zu Zeiten des Sputnik klang das nicht absurd. Dass es das doch war, wurde nach 1960 überdeutlich.
    Diese Ereignisse und ihre Implikationen für Politik und Theorie gehören indes einer Zeit nach Marx’ und Engels’ Tod an. Sie liegen außerhalb der Reichweite von Marx’ Erfahrungen und Einschätzungen. Unser Urteil über den Marxismus des 20. Jahrhunderts beruht nicht darauf, wie Marx die Dinge dachte, sondern auf postumen Interpretationen und Revisionen seiner Schriften. Allenfalls ließe sich feststellen, dass bereits während
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