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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Autoren: Eric Hobsbawm
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der ersten intellektuellen Krise des Marxismus in den späten 1890er Jahren Zeitgenossen, die noch im persönlichen Kontakt zu Marx – aber vermutlich eher zu Friedrich Engels – gestanden hatten, verschiedene Fragestellungen zu diskutieren begannen, die im 20. Jahrhundert relevant werden sollten, namentlich Revisionismus, Imperialismus und Nationalismus. Ein Großteil der späteren marxistischen Diskussion gehört indes dem 20. Jahrhundert an und findet sich nicht bei Karl Marx, darunter insbesondere die Debatte darüber, wie eine sozialistische Wirtschaftsordnung aussehen könnte oder sollte, eine Debatte, die im Wesentlichen aus der Erfahrung der Kriegswirtschaft in den Jahren 1914 bis 1918 sowie in den mehr oder minder revolutionären Krisen der unmittelbaren Nachkriegszeit entstand.
    So lässt sich die Behauptung, im Hinblick auf eine beschleunigte Entfaltung der Produktivkräfte sei der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen, schwerlich auf Marx zurückführen. Ein solcher Anspruch gehört einer Zeit an, da der Kapitalismus in der Krise der Zwischenkriegsjahre und die UdSSR der Fünfjahrespläne einander gegenüberstanden. Tatsächlich behauptet Marx nicht, der Kapitalismus sei an Grenzen gestoßen, was seine Möglichkeiten angeht, die Produktivkraftentwicklung zu forcieren, sondern beschreibt vielmehr den Rhythmus des kapitalistischen Wachstums als ein Auf und Ab, das periodische Überproduktionskrisen produziert; früher oder später nun würden sich Letztere als mit dem kapitalistischen Wirtschaften unvereinbar erweisen und zu gesellschaftlichen Konflikten führen, was der Kapitalismus letztlich nicht überlebe. Der sei seiner Natur nach nämlich nicht imstande, die nachfolgende ökonomische Ordnung der gesellschaftlichen Produktion zu gestalten. Diese, so nahm Marx an, würde notwendigerweise sozialistisch sein.
    Von daher ist es nicht überraschend, dass der »Sozialismus« ins Zentrum der Debatten und Betrachtungen rückte, die im 20. Jahrhundert auf Karl Marx Bezug nehmen. Das geschah nicht, weil das Projekt einer sozialistischen Ökonomie ein marxistisches Spezifikum wäre – denn das ist es nicht –, sondern weil alle von Marx inspirierten Parteien ein solches Projekt teilten und die kommunistischen sogar den Anspruch erhoben, es verwirklicht zu haben. In der aus dem 20. Jahrhundert bekannten Form ist das Projekt tot. Der »Sozialismus«, wie er in der UdSSR und den anderen »Zentralplanwirtschaften« zur Anwendung kam, also im Prinzip marktlosen, verstaatlichten und staatlich kontrollierten Befehlsökonomien, ist vorüber und wird auch nicht zu neuem Leben erweckt werden. Sozialdemokratische Bestrebungen, sozialistische Ökonomien aufzubauen, galten immer einem zukünftigen Ideal, doch selbst als reine Lippenbekenntnisse verschwanden sie am Ende des Jahrhunderts.
    Inwiefern konnten sich das Sozialismusmodell, das den Sozialdemokraten vorschwebte, und der Sozialismus, wie ihn die kommunistischen Regime errichtet hatten, auf den Marx’schen Entwurf berufen? Marx selbst verzichtete wohlweislich, das ist der springende Punkt, auf definitive Äußerungen zur Ökonomie oder zu den ökonomischen Institutionen des Sozialismus, und auch über die konkrete Gestalt der kommunistischen Gesellschaft sagte er nichts, abgesehen davon, dass sie nicht einfach herbeigeführt werden könne oder einem Programm folge, sondern sich aus der sozialistischen Gesellschaft heraus bilden werde. Die allgemeinen Bemerkungen zum Thema, etwa in der Kritik des Gothaer Programms der deutschen Sozialdemokraten, boten Marx’ Nachfolgern kaum konkrete Orientierungshilfe, und tatsächlich machten diese sich auch keine ernsthaften Gedanken über etwas, was im Vorfeld der Revolution ihrer Meinung nach lediglich ein akademisches Problem oder eine utopische Übung blieb. Es genügte zu wissen, dass – um die berühmte Klausel IV der britischen Labour Party Constitution zu zitieren – der Sozialismus »auf dem gemeinsamen Eigentum an den Produktionsmitteln« beruhen würde, was nach allgemeiner Auffassung durch die Verstaatlichung der heimischen Industrie zu erreichen war.
    Eigentümlicherweise geht die erste konzeptionelle Ausarbeitung einer zentralisierten sozialistischen Ökonomie nicht auf einen Sozialisten zurück, sondern stammt aus dem Jahr 1908, und zwar von Enrico Barone, einem nicht-sozialistischen italienischen Nationalökonomen. Niemand sonst dachte über das Thema nach, bevor gegen Ende des Ersten Weltkriegs die Frage der
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