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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Autoren: Eric Hobsbawm
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Großbritanniens, wo er mehr als die Hälfte seines Lebens im Exil verbrachte, keinen bedeutenden Platz erobert.
    Und doch, welch ein außergewöhnlicher postumer Erfolg! Binnen eines Vierteljahrhunderts nach Marx’ Tod errangen in Europa die politischen Parteien der Arbeiterklasse, in seinem Namen gegründet oder anerkanntermaßen von ihm beeinflusst, in Ländern mit demokratischen Wahlen zwischen 15 und 47 Prozent der Wählerstimmen – die einzige Ausnahme bildete Großbritannien. Nach 1918 waren die meisten dieser Parteien nicht mehr bloß in der Opposition, sondern wurden zu Regierungsparteien und blieben es auch nach dem Ende des Faschismus, waren dabei mehrheitlich jedoch darauf bedacht, von ihrer ursprünglichen Inspiration abzurücken. Sie alle existieren noch heute. In Ländern ohne demokratische Verhältnisse sowie in solchen der Dritten Welt gründeten unterdessen Anhänger von Marx revolutionäre Gruppen. 70 Jahre nach Marx’ Tod lebte ein Drittel des Menschengeschlechts in Regimen unter Führung kommunistischer Parteien, die behaupteten, seine Ideen zu verkörpern und seine Erwartungen zu realisieren. Für immer noch gut 20 Prozent der Menschheit trifft das weiterhin zu, auch wenn die herrschenden Parteien in diesen Ländern ihre Politik bis auf wenige Ausnahmen dramatisch verändert haben. Kurz und gut, wenn es einen Denker gibt, der das 20. Jahrhundert unübersehbar und unauslöschlich prägte, dann war es Marx. Auf dem Friedhof von Highgate liegen Marx und Spencer – Karl Marx und Herbert Spencer – begraben, beide Denker des 19. Jahrhunderts, ihre Grabstätten kurioserweise in Sichtweite voneinander. Zu Lebzeiten beider war Spencer der anerkannte Aristoteles seiner Zeit, Marx hingegen einer, der im unteren Teil von Hampstead vom Geld seines Freundes lebte. Heutzutage weiß man nicht einmal mehr, dass Spencer auf dem Friedhof von Highgate liegt, während Marx’ Grab das Ziel älterer Pilger aus Japan oder Indien ist und im Exil lebende iranische oder irakische Kommunisten es sich nicht nehmen lassen, in seinem Schatten beigesetzt zu werden.
    Die Epoche kommunistischer Regimes und Massenparteien fand mit dem Zusammenbruch der UdSSR ein Ende, denn selbst dort, wo sie noch überlebt haben, wie in China oder Indien, gaben sie in Wirklichkeit das alte Vorhaben des leninistisch geprägten Marxismus auf. Damit fand sich Karl Marx einmal mehr in einem Niemandsland wieder. Der Kommunismus hatte für sich in Anspruch genommen, der einzige rechtmäßige Erbe Marx’ zu sein; seine Ideen wurden im Großen und Ganzen mit jenem identifiziert. Selbst die dissidenten marxistischen oder marxistisch-leninistischen Strömungen, die hier und da vereinzelt Fuß fassten, nachdem Chruschtschow 1956 Stalin öffentlich angeprangert hatte, bestanden fast durchgängig aus abtrünnigen Ex-Kommunisten. Entsprechend war Marx in den ersten beiden Jahrzehnten nach seinem 100. Todestag eigentlich passé; sich mit ihm abzugeben galt als nicht der Mühe wert. Irgendein Journalist meinte gar, unsere Diskussion im Lesesaal des Britischen Museums sei der Versuch, Marx vom »Müllhaufen der Geschichte« zu retten. Und doch ist Marx heute zweifellos, einmal mehr, aktuell und ein Denker für das 21. Jahrhundert.
    Meiner Meinung nach sollte man nicht allzu viel auf eine Umfrage der BBC geben, der zufolge die britischen Radiohörer Marx für den größten aller Philosophen halten; doch auch wenn man seinen Namen bei Google eingibt, findet er sich unter den größten intellektuellen Geistern wieder, übertroffen nur von Darwin und Einstein, doch eindeutig vor Adam Smith oder Sigmund Freud.
    Es gibt dafür meiner Ansicht nach zwei Gründe. So befreite erstens das Ende des staatsoffiziellen Marxismus in der UdSSR Marx davon, in der öffentlichen Wahrnehmung theoretisch mit dem Leninismus und praktisch mit den leninistischen Regimen in eins gesetzt zu werden. Ganz offenkundig gab es reichlich gute Gründe, die Dinge, die Marx über die Welt zu sagen hatte, weiterhin in Anschlag zu bringen. Insbesondere weil – zweitens – die globalisierte Welt, die sich in den 1990er Jahren herausbildete, auf entscheidende und unheimliche Weise der Welt nachgeriet, wie sie Marx im Kommunistischen Manifest antizipiert hatte. Deutlich wurde das an der öffentlichen Reaktion, die im Jahr 1998 den 150. Jahrestag des Erscheinens dieses erstaunlichen kleinen Pamphlets begleitete – wie der Zufall es wollte, war 1998 ein Jahr dramatischer Turbulenzen in der
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