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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Autoren: Eric Hobsbawm
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Runden sich aufbauender Spannungen und zeitweiliger Lösungen, eines Wachstums, das zu Krisen und Veränderungen führt; das Ergebnis sind Konzentrationsprozesse in einer zunehmend globalisierten Ökonomie. Mao Zedong träumte von einer Gesellschaft, die sich unaufhörlich revolutionär erneuert; der Kapitalismus hat dieses Projekt ständigen historischen Wandels durch ununterbrochene »schöpferische Zerstörung« verwirklicht, wie Joseph Schumpeter (hierin Marx folgend) sie beschrieb. Marx war der Überzeugung, dass dieser Prozess schließlich – und notwendig – zu einer ungeheuren Konzentration der Wirtschaft führen werde. Entsprechend äußerte sich Attali kürzlich in einem Interview, als er sagte, dass die Zahl der Leute, die in der Wirtschaft maßgebliche Entscheidungen zu treffen haben, sich in vierstelliger, maximal fünfstelliger Größenordnung bewege. Marx nun war überzeugt, diese Dynamik werde die Aufhebung des Kapitalismus zur Folge haben, eine Vorhersage, die in meinen Ohren immer noch plausibel klingt, wenn auch auf andere Art als von Marx antizipiert.
    Marx’ Prognose, die Überwindung des Kapitalismus werde sich als »Expropriation der Expropriateure« durch ein gewaltiges Proletariat vollziehen und letztlich zum Sozialismus führen, stützte sich freilich nicht auf seine Analyse der Funktionsweise des Kapitalismus, sondern beruhte auf davon unabhängigen Annahmen a priori. Allenfalls steht dahinter die Vermutung, die Industrialisierung werde eine Bevölkerung schaffen, die in ihrer Mehrheit aus körperlich arbeitenden Lohnarbeitern besteht, wie es zu jener Zeit für England zutraf. Eine solche Annahme war für eine Prognose mittlerer Reichweite exakt genug, doch langfristig nicht haltbar, wie wir wissen. Auch Marx und Engels gingen nach den 1840er Jahren nicht länger davon aus, der Kapitalismus werde zu der politisch radikalisierenden Verelendung führen, die sie zuvor erwartet hatten. Für beide war offensichtlich, dass große Teile des Proletariats nicht im absoluten Sinn verarmten. Ein amerikanischer Beobachter auf einem durch und durch proletarischen Parteitag der deutschen Sozialdemokratie Anfang des 20. Jahrhunderts notierte, die dort versammelten Genossen würden »wohl nicht länger am Hungertuch nagen«. Und selbst die offenkundig größer werdende ökonomische Ungleichheit zwischen verschiedenen Teilen der Welt führte ebenso wie die zwischen den Klassen nicht notwendig zu Marx’ »Expropriation der Expropriateure«. Kurzum, in die Analyse wurden Zukunftserwartungen hineingelesen, die sich keineswegs aus ihr ergaben.
    Ein drittes Moment lässt sich am besten in den Worten des Wirtschaftsnobelpreisträgers Sir John Hicks zusammenfassen. »Die meisten, denen es darum zu tun ist, den allgemeinen Gang der Geschichte nachzuvollziehen«, so Hicks, »werden wohl auf marxistische Kategorien oder bestimmte Varianten davon zurückgreifen, denn es gibt wenig Alternativen, die für so etwas in Frage kämen.«
    Die Lösungen für die Probleme, denen die Welt im 21. Jahrhundert gegenübersteht, lassen sich noch nicht absehen, doch wenn sie am Ende erfolgreich sein sollen, müssen sie Marx’ Fragen stellen, selbst wenn es nicht darum geht, die Antworten seiner verschiedenen Schüler zu übernehmen.

5 DIE GRUNDRISSE ENTDECKEN
    Der Ort der Grundrisse in Marx’ Œuvre und ihr Schicksal sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal bieten sie unter den Schriften des reifen Marx das einzige Beispiel eines umfangreicheren Werks, das Marxisten mehr als ein halbes Jahrhundert nach Marx’ Tod aus rein praktischen Gründen unbekannt geblieben war; schließlich verging nach der Abfassung der Manuskripte, die letzten Endes unter jenem Namen vereint wurden, fast ein Jahrhundert, in dem sie weitgehend nicht verfügbar waren. Ungeachtet der über ihre Bedeutung entbrannten Debatten zeigen die Niederschriften aus den Jahren 1857/58, die zweifellos Teil der intellektuellen Anstrengung sind, aus der Das Kapital hervorgehen sollte, Marx in seiner Reife, nicht zuletzt als Ökonom. Das unterscheidet die Grundrisse von einer anderen, früher veröffentlichten, postumen Ergänzung des Marx’schen Werkkorpus, nämlich von den 1932 publizierten Frühschriften . Der genaue Stellenwert dieser Schriften aus den frühen 1840er Jahren für Marx’ theoretische Entwicklung blieb lange, zu Recht oder zu Unrecht, eine heftig diskutierte Frage, doch über die Reife des Werks aus den Jahren 1857/58 kann es
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