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Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)

Titel: Wie man die Welt verändert: Über Marx und den Marxismus (German Edition)
Autoren: Eric Hobsbawm
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Verstaatlichung von Privatunternehmen auf die realpolitische Tagesordnung geriet. In jenem Moment standen die Sozialisten dem Problem recht unvorbereitet gegenüber, Orientierungshilfe bot weder die Vergangenheit noch irgendjemand anderes.
    »Planung« gehört zu jeder Art gesellschaftlich organisierter Ökonomie, doch äußerte sich Marx darüber nicht konkret, und so waren die ersten Planungsversuche in Sowjetrussland nach der Revolution weitgehend darauf angewiesen zu improvisieren. Auf theoretischer Ebene spiegelt sich das in der Entwicklung von Konzepten zur »Sowjetökonomik« (Leont’ev) und der Bereitstellung einschlägiger Daten wider. Solche Entwürfe wurden später in nicht-sozialistischen Ökonomien weithin aufgegriffen. Auf praktischer Ebene geschah es in Anlehnung an die mehr oder minder improvisierte Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, insbesondere in Deutschland, und möglicherweise galt hier die besondere Aufmerksamkeit der Elektroindustrie, über die Lenin durch politische Sympathisanten unter den leitenden Angestellten in deutschen und amerikanischen Elektrounternehmen informiert war. Die Kriegswirtschaft blieb auch weiterhin das Grundmodell der sowjetischen Planwirtschaft, also ein Wirtschaftsmodell, in dem bestimmte Ziele vorgegeben werden – wie etwa eine extrem schnelle Industrialisierung, der Sieg im Krieg, die Entwicklung einer Atombombe oder der bemannte Mondflug –, um diese daraufhin durch Planung der Ressourcenverteilung zu erreichen, koste es auch kurzfristig, was es wolle. Daran ist nichts besonders sozialistisch. Auf vorgegebene Planziele hinzuarbeiten kann mehr oder weniger ausgeklügelt und differenziert geschehen, doch kam die sowjetische Ökonomie niemals wirklich über diesen Punkt hinaus. Überdies gelang es ihr trotz aller nach 1960 unternommenen Versuche nicht, dem Dilemma zu entkommen, das der Implementierung von Marktverhältnissen in bürokratische Befehlsstrukturen innewohnt.
    Die Sozialdemokratie veränderte den Marxismus auf andere Art, indem sie nämlich entweder das Problem des Aufbaus einer sozialistischen Ökonomie aufschob oder aber, positiv, gemischte Wirtschaftsformen der einen oder anderen Art entwarf. Soweit sozialdemokratische Parteien dem Aufbau einer sozialistischen Ökonomie in vollem Umfang verpflichtet blieben, führte das zu weiterem Nachdenken. Einige sehr interessante Überlegungen kamen dabei von nicht-marxistischen Denkern wie Sidney und Beatrice Webb, beide aktiv in der Fabian Society: Sie fassten einen stufenweisen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ins Auge, bewerkstelligt durch eine Reihe irreversibler und kumulativer Reformen, was sie auch dazu brachte, über die institutionelle Gestalt des Sozialismus politisch nachzudenken; die wirtschaftlichen Abläufe ließen sie dabei allerdings außer Acht. Der wichtigste marxistische »Revisionist«, Eduard Bernstein, ging dem Problem geschickt aus dem Weg, wenn er darauf pochte, dass die reformistische Bewegung alles sei, dem letzten Ziel hingegen keinerlei praktische Realität zukomme. Faktisch entschieden sich die meisten sozialdemokratischen Parteien, die nach dem Ersten Weltkrieg zu Regierungsparteien wurden, für eine revisionistische Politik, indem sie letztlich die Funktionsweise der kapitalistischen Ökonomie unangetastet ließen, obschon einige der Forderungen der Sozialdemokratie erfüllt wurden. Ihren locus classicus fand diese Haltung in The Future of Socialism (1956) von Anthony Crosland, der darin geltend machte, eine gemeinwirtschaftliche Orientierung (ob in der klassischen Form der Verstaatlichung oder auf anderem Wege) sei nicht länger nötig, da es dem Kapitalismus nach 1945 gelungen sei, eine Überflussgesellschaft zu schaffen; Sozialisten bleibe lediglich die Aufgabe, für eine gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands zu sorgen. All das hatte sich von Marx und namentlich von der traditionellen sozialistischen Vorstellung vom Sozialismus als einer im Kern marktlosen Gesellschaft weit entfernt, einer Vorstellung, die vermutlich auch Karl Marx teilte.
    Keinen marxistischen oder auch nur sozialistischen Bezug hat idas Verschwinden der staatlichen brigen, wie ich an dieser Stelle anmerken möchte, die in jüngerer Zeit geführte Debatte zwischen Neo-Liberalen und ihren Kritikern über die Rolle des Staates und staatseigener Unternehmen. Sie beruht vielmehr auf dem seit den 1970er Jahren anhaltenden Versuch, durch den systematischen Rückzug des Staates von
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