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Wie Krähen im Nebel

Wie Krähen im Nebel

Titel: Wie Krähen im Nebel
Autoren: Felicitas Mayall
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etwas Verbotenem ertappt hat. Der Arzt dagegen lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand und beobachtete Laura Gottberg. Langsam ging Laura in die Knie, bis sie dem Gesicht der Toten nahe war.
    Erstaunt, verblüfft, erschrocken, dachte sie. Vielleicht hat sie noch etwas gerufen, ehe sie starb. Eine hübsche Frau – nicht schön – hübsch. Alltagshübsch, nicht zu auffällig, vielleicht aus dem Osten.
    Laura sah sich um. Der schwarze Lederrucksack der Toten lag auf dem Boden, eine Haarbürste und ein Parfümfläschchen waren herausgerollt. Keine Spuren eines Kampfes waren zu sehen, nur wenig Blut auf dem Boden.
    «Wie ist sie gestorben?», fragte Laura, ohne den Arzt anzusehen.
    «Aufgesetzter Schuss ins Herz. Sie war sofort tot. Soweit ich es bisher beurteilen kann, wurde die Tat ungefähr vor zwei Stunden verübt.»
    «Wann kam der Zug hier an?» Laura wandte sich zu Dr.   Reiss um, sah, wie müde und blass er wirkte.
    «Kurz vor zwölf. Er hatte fast drei Stunden Verspätung. Demnach müsste der Mord in der Gegend von Innsbruck oder Kufstein geschehen sein. Der Zug hat bei Rosenheim lange warten müssen, weil eine Weiche nicht funktionierte.»
    «Habt ihr eine Ahnung, wer sie ist?»
    Der Arzt schüttelte den Kopf.
    «Weder in ihrer Jacke noch in ihrem Rucksack war ein Ausweis oder so was. Keine Kreditkarte, kein Führerschein – gar nichts. Der Täter hat alles verschwinden lassen. Außer dem Rucksack gibt es auch kein Gepäck. Die Kollegen sind durch den ganzen Zug und haben nichts gefunden. Übrigens ist da noch so ein vom Himmel Gefallener   … Lassen Sie sich die Geschichte von den Kollegen erklären. Ich habe ihn nicht gesehen, weil er bereits ins Krankenhaus gebracht worden war. Ein junger Mann ohne Papiere und Gepäck. Es sieht so aus, als wäre ein Rangierarbeiter über ihn gestolpert, sonst würde dieser Mann ebenfalls nicht mehr leben. Er und der Arbeiter lagen genau neben den Schienen des letzten Zugs, der hier einfahren sollte.»
    «Und das alles in einer Nebelnacht, die uns zu asthmatischen Höhlenbewohnern macht», erwiderte Laura. «Finden Sie nicht, dass dies unwirklich ist? Die Stadt im Nebel, der Bahnhof, die Tote und die Männer auf den Schienen?»
    «Doch, finde ich!» Der Arzt lachte trocken auf. «Ich wusste gar nicht, dass Sie eine philosophische Ader haben. Aber mit den asthmatischen Höhlenbewohnern liegen Sie ganz richtig: Im Nebel sammeln sich sämtliche Schadstoffe. Ich habe gestern schon den ganzen Tag unter Atembeschwerden gelitten. Hatte wenigstens auf eine ruhige Nacht gehofft.»
    «Dann gehen Sie doch wieder schlafen», lächelte Laura.
    «Bringt nichts», murmelte der Arzt grämlich. «Wenn ich nachts aufstehe, dann ist es vorbei. Ich werde die Leiche ins Institut begleiten und mich gleich an die Arbeit machen.»
    Wie eine Krähe im Nebel, dachte Laura und wunderte sich über ihren Gedanken. Natürlich musste Dr.   Reiss die Obduktion der Toten durchführen, und trotzdem kam er Laura vor wie eine Krähe im Nebel. Krähen warteten ebenfalls auf Tote, öffneten deren Leiber. Laura stieg über die Beine der Ermordeten hinweg und stellte sich neben den Arzt. Beideschauten sie aus dem Fenster auf die Männer von der Spurensicherung, aus deren Mündern weiße Fahnen emporstiegen, wenn sie den Rauch ihrer Zigaretten ausatmeten oder sprachen.
    Sprechblasen ohne Worte, dachte Laura. Ich muss das Angelo erzählen – das von der Krähe im Nebel und den Sprechblasen ohne Worte. Es wird ihm gefallen. Aber selbst Angelo Guerrini erschien ihr unwirklich in dieser Nacht, auch ihre Liebe zu dem italienischen Kollegen. Vor ein paar Stunden war Angelo noch wirklich gewesen. Sie hatte seine Stimme am Telefon gehört und sich so heftig nach ihm gesehnt, dass ihre Haut schmerzte. Hatte auf einmal den Duft von Feigenblättern und Nachtviolen wahrgenommen. Zehntelsekunden lang jagten verrückte Gedanken durch ihren Kopf, wie Fenster, die man aufstößt und schnell wieder zumacht: Waren Luca und Sofia nicht alt genug, um bei ihrem Vater zu leben? Dann könnte sie selbst nach Siena ziehen – etwas ganz anderes machen. Sie war noch nie wirklich frei gewesen. Noch nie!
     
    Die Kollegen auf dem Bahnsteig traten ihre Zigaretten aus.
    «Können wir weitermachen?»
    «Natürlich!», sagte Laura, versuchte sich zu konzentrieren. «Gibt es schon was?»
    «Bisher sieht alles ziemlich mager aus.» Andreas Havel, einer der Spurensicherer, unterdrückte ein Gähnen. Laura mochte ihn. Er war jung,
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