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Wie kommt das Salz ins Meer

Wie kommt das Salz ins Meer

Titel: Wie kommt das Salz ins Meer
Autoren: Brigitte Schwaiger
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Blutdruckmessung und mein Blutdruck ist ganz normal.
    Geisteskranke wissen doch nicht, daß sie geisteskrank sind, sagt der Arzt. Ich? Nein, sie, die Geisteskranken, wissen nicht, daß sie geisteskrank sind. Ihr Mann als Techniker hat doch nicht das Recht, eine Diagnose zu stellen, sagt die Schwester. Ich bin nur Internist, sagt der Arzt, auch ich würde nie eine Diagnose stellen, die nicht in mein Gebiet fällt. Vielleicht sind Sie schwanger. Die Schwester füllt mein Blut in mehrere Glasröhrchen. Plötzlich legt sie den Finger auf den Mund: Ich soll nicht von Selbstmord reden, jetzt ist die Patientin mit der Leukämie gekommen. Der Arzt zieht einen Vorhang zwischen die Frau und mich. Ich habe nur gesehen, daß sie ein bräunlichblaues Gesicht hat. Könnten wir nicht tauschen, die dort und ich? Wir würden uns gegenseitig helfen. Machen Sie sich unfrei. Ziehen Sie sich an. Warum bin ich nicht verrückt? Wenn sie wüßten, wie es in meinem Kopf tobt. Ich würde ihn gern unter eine rotierende Säge halten, damit das Geräusch da drin aufhört.
    Warum möchten Sie unbedingt verrückt sein, fragt der Arzt. Rauchen Sie? Die Schwester hört, daß er im Begriff ist, eine Zigarette anzuzünden, und reicht einen Aschenbecher durch den Vorhang. Ich habe Angst, es zu sein, und das gibt einem eben das Gefühl, daß man verrückt ist, weil man ja nicht verrückt ist und es aber glaubt, und so weiter. Haben Sie nie Angst? Der Internist schüttelt den Kopf. Keinen Lebensüberdruß? Nein, wirklich nicht. Er hat ja diese schöne Arbeit und die Schwester. Die beiden haben so viel. Er hält sich nicht für verrückt. Also sind Sie vielleicht geisteskrank, weil Sie glauben, daß Sie normal sind? Er lacht: So einfach ist das nicht. O ja, ich glaube, das Leben ist ganz einfach. Aber weil wir von der Einfachheit zurückschrecken, machen wir Schnörkel hinein und verstecken uns in ihnen, und wer nicht die Schnörkel will, der hat die Einfachheit, und das macht lebensuntüchtig.
    Weiter? Weiter kann ich nicht. Ich habe das in mein Wirtschaftsbuch geschrieben, als der Reis teurer wurde. Mein Mann hat früher gern im Wirtschaftsbuch gelesen, weil er mich so unter Kontrolle hatte, in jeder Hinsicht. Aber jetzt mache ich keine Eintragungen mehr, weil ich ein Verhältnis habe mit einem anderen Mann. Deshalb also wollen Sie auf keinen Fall schwanger sein, sondern verrückt, sagt der Internist. Wie kann ich ihn davon überzeugen, daß ich krank bin? In letzter Zeit ist mein Mann auch sehr beunruhigt, weil ich jeden Tag das Gegenteil von dem sage, was ich am Vortag behauptet habe. Das hebt sich doch jeden dritten Tag wieder auf, sagt der Internist, und Sie haben nur zwei Meinungen. Nein, es ist immer wieder ein neues Gegenteil! Dann sind Sie unstet, das macht doch nichts. Aber er mag es nicht, daß ich unstet bin. Wer? Mein Mann! Er hat ganz auf meinen Mann vergessen. Weil er schon an die nächste Patientin denkt, die, deren Blut da hinterm Vorhang gewaschen wird.
    Auch der Neffe von Beethoven wollte sich umbringen. Weil mich der Onkel so sekkiert hat, sagt er. Beethoven war ein Geizkragen und kontrollierte seine Wirtschafterin. Ging heimlich auf den Markt und zählte, wieviel Löffel Zucker seine Köchin in den Kaffee warf und ob das mit seinen Berechnungen übereinstimmte. Beethoven und Rolf, die großen Sparer. Der Internist sagt, er wird mich vom Ergebnis der Blutproben verständigen. Dann läuft mir die Krankenschwester nach, in den Korridor, wo lauter Kranke sitzen, die es gut haben, und sie sagt, sie wird mich anrufen, sobald etwas da ist oder es mir schreiben, ich brauche nicht wiederzukommen. Die, die hier in den Gängen sitzen, das sind Leichen, und sind noch warm.
    Warum glaubt mir keiner, daß ich krank bin? Ist es ein gesunder Gedanke, wenn ich jeden Monat voll Sehnsucht auf die Bauchschmerzen warte, damit mein Kind verschont bleibt, wenn ich gerettet denke bei allen meinen ungeborenen Kindern, jeden Monat, und wenn ich wirklich lieber tot wäre als lebendig? Das sind Krisen, sagt Albert, und wenn du erst ein Kind hast, wirst du sehen, wie du dich änderst: Du trägst Verantwortung und hast lebendiges Material. Und ich? Du wirst dann an dein Kind denken und nicht mehr an dich. Der Krankenhausportier schaut mich gar nicht an, wie ich so gesund an der Loge vorbeigehe. Auf Gesunde, die ins Krankenhaus gehen, ist man nicht neugierig. Sind Hausbesorger nie neugierig an sich? Rolf hat gesagt: Hausbesorgerinnen sind neugierig. Du bist
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