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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Autoren: Michael Jürgs
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Eppelmann und nimmt mich stellvertretend für alle, die er meint, ins Visier, »warum solltet ihr stolz sein auf unsere Revolution?«.
    Die Vergangenheit der Ostdeutschen kümmert Westdeutsche eh nicht. Viele setzen das verrottete politische und wirtschaftliche System der DDR mit dem Verhalten der Menschen gleich, die da lebten, so als hätten die in dem von oben bestimmten unten kein selbst bestimmtes Leben gekannt – Liebe, Geburten, Freunde, Familie. Als hätte es in Dunkeldeutschland keine Jahreszeiten gegeben,
keine Sonnenaufgänge, keine Sternennächte. Einstige Bürger der DDR wiederum fühlen sich persönlich angegriffen, wenn über ihr Staatswesen pauschal geurteilt wird, als hätten sie alle in Käfigen unter Aufsicht der Stasi hausen müssen. Immer wieder hörte ich auf meinen Reisen durch Deutschland den Vorwurf: Ihr habt euch nie für unsere Biografien interessiert.
    In die ziehen sie sich deshalb beleidigt zurück. Von wegen »Vorwärts immer, rückwärts nimmer«, wie es eine berühmte Losung im real dahinvegetierenden Sozialismus verheißen hatte. Wer im Hier und Heute für sich keinen Fortschritt erkennen mag, geht eben einen Schritt zurück. Dass staatliche Versprechen, Verheißungen,Verlautbarungen nichts mit der von ihnen erfahrenen Realität zu tun hatten, wissen die Ostdeutschen. Im anderen deutschen Staat gab es beispielsweise einen »Designpreis der Deutschen Demokratischen Republik«, doch falls ein junges Mädchen eine Lehre als Gebrauchswerberin begann, um später Schaufenster zu dekorieren, scheiterte sie an der Wirklichkeit.
    In den Schaufenstern lag nichts, was sie hätte dekorieren können, um unentschlossene Käufer anzulocken. Die standen immer entschlossen in einer Schlange, ganz egal, was zufällig im Angebot war. Würde ich heute im Westen in Fußgängerzonen Passanten befragen, was ihnen spontan als typisch für die andere Zone einfällt, wäre das Bild von Schlangen vor den HO-Läden sicher unter den ersten drei Antworten.
    In der realen DDR-Mangelwirtschaft gab es kaum etwas, woran eine Gebrauchswerberin neue Ideen hätte erproben können. Junge Männer dagegen, die Medaillen für »Ausgezeichnete Leistungen in den bewaffneten Organen des Ministeriums des Inneren« anstrebten oder »Hervorragende Leistungen in den Kampfgruppen der Arbeiterklasse«, hatten viele Gelegenheiten, sich zu profilieren. Auch »Verdiente Mitarbeiter der Staatssicherheit« liefen zuhauf herum, obwohl die ihre Medaillen in der Öffentlichkeit nicht zeigten, lieber unerkannt und unter sich blieben. Die ebenfalls jährlich vom Staat verliehenen Medaillen für »Hervorragende Leistungen im Bauwesen« hätten angesichts der nach
1989 sichtbar gewordenen Ruinen, die als bewohnbar galten, besser »Potemkin’sche Orden des Volkes« genannt werden müssen. Mit der Wirklichkeit hatten die im »Bauwesen« der DDR tätigen Genossen so ihre Probleme. Wolfgang Berghofer, einst Oberbürgermeister von Dresden und in seiner Amtszeit verzweifelt bemüht, den Verfall aufzuhalten, ist überzeugt davon, dass Städte wie die seinige oder Pirna oder Riesa innerlich unrettbar zerbröselt wären, falls es bis zum Zusammenbruch der DDR noch drei, vier Jahre länger gedauert hätte.
    Tatsache ist nun mal, dass der deutsche Sozialismus à la DDR wirtschaftlich, politisch und moralisch versagt hat, dass es deshalb eines zweiten deutschen Staates nicht mehr bedurfte. »Rückwärts immer häufiger« passt dennoch vielen im Osten als Alternative zur deutschen Neuzeit inzwischen besser ins selbst gemalte Weltbild, in dem eine diffuse allgemeine Angst vor der Zukunft die vorherrschende Grundierung ist: Fast siebzig Prozent der Ostdeutschen fürchten gesellschaftliche Veränderungen, fast sechzig Prozent empfinden ihr Leben als ständigen Kampf und deshalb als Dauerstress, fast fünfzig Prozent fühlen sich vom Staat verlassen, der sich früher um sie gekümmert habe.
    Leiden die denn an Gedächtnisverlust?, frage ich Doktor Maaz, den Arzt und Therapeuten. Haben viele bereits vergessen, wie ihr Leben tatsächlich aussah in der DDR? Wollen die wirklich ihren Staat zurück, frei nach der zynischen Schlussfolgerung, nun sei ja alles saniert, was der Sozialismus an Schrott und Trümmern hinterlassen hatte, nun könnte man es doch noch einmal versuchen?
    Natürlich nicht. Rückwärts zwar schon, aber nicht zurück zu den alten Zuständen. Maaz deutet die neue Volksbewegung, die von undifferenzierter Ostalgie angetrieben wird, ganz
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