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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Autoren: Michael Jürgs
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einfach: »Wenn mir meine Welt immer wieder von Wessis erklärt wird, bin ich automatisch mehr als je zuvor ein überzeugter Ossi.« Ein belastbares Nationalgefühl Ost existierte nicht mal in jener Zeit, als der Osten noch fest für die Ewigkeit gemauert schien, obwohl die SED immer versuchte, es diesseits vom kurzfristigen Stolz auf sportliche Erfolge langfristig zu etablieren. Das Nationalgefühl
Ost, das sich in trotzigen, aber nicht immer so komischen Äußerlichkeiten zeigt wie dem scheinbar spielerisch provokanten Outfit junger Paare in Ostdiscos – er in Uniform der Volksarmee, sie im blauen FDJ-Hemd -, gedeiht erst jetzt im geeinten Deutschland, ist eigentlich reaktionär, aber verständlich.
    Früher gab es zwar die Abhorch- und Zugreiftrupps von der Stasi, und es gab keine Bananen, und die Menschen durften nicht laut sagen, was sie dachten, und nicht dahin reisen, wohin sie wollten usw., aber sie hatten alle selbst dann eine Arbeit, wenn sie mangels Material an ihrem Arbeitsplatz nichts zu tun hatten. Die verdeckte Arbeitslosigkeit in Kombinaten, die in keiner Bilanz auftauchte, weil im staatlich sanktionierten System der Täuscher keine Arbeitslosen vorgesehen waren, betrug etwa fünfzehn Prozent. Das ist zahlenmäßig nicht weit entfernt vom heutigen Durchschnitt in den neuen Bundesländern.
    Nach Dienstschluss begann die eigentlich spannendere, die wesentliche Tätigkeit, die Suche nach irgendwelchen Ersatzteilen, nach Mörtel und Farbe für die bedürftigen Altbauten. Wohnungen in den äußerlich hässlichen, aber innen modernen Plattenbauten waren deshalb heiß begehrt. In den zentral beheizten Wohnblöcken ließ sich wenigstens die Zimmertemperatur regeln, indem man die Fenster öffnete. Die Mieter hatten ein eigenes Bad und ein eigenes Klo statt des üblichen Plumpsklos im Hausflur. Das war sichtbarer, spürbarer Fortschritt.
    Er sei, sagt Eppelmann, wie die meisten Bürger davon überzeugt gewesen, dass man sich fügen müsse in die Umstände und Zustände, »dass die DDR länger bestehen würde, als ich lebe. Also richtete ich mich möglichst anständig im Unabänderlichen ein, immer in der Hoffnung, mir wenigstens einen Teil meiner bescheidenen Wünsche ans Leben erfüllen zu können. Nur so ist verständlich, dass wir, als das Unerwartete doch passierte, das Wunder, auf einmal so ungeduldig waren. Wir hatten nicht vierzig Jahre Zeit wie ihr, alles aufzubauen.Wir waren schon hinweg über die Mitte des Lebens und wollten nicht aufs Glück warten, bis wir achtzig sind.«
    Vor der Revolution also nur ein einig Volk von Duckmäusern und Spitzeln und angepassten Funktionären, im Kindergarten zum Kader-Kacken und dem Auswendiglernen von Gedichten zu Lenins Geburtstag verpflichtet? Von wegen. In den privaten vier Wänden schauten sie West-Fernsehen, lachten sich gemeinsam schlapp, wenn alle Jahre wieder die glorreiche Erfüllung des Plansolls verkündet wurde, machten Witze über die regierenden Greise des Politbüros. Wie begann bei denen eine Sitzung? Erstens Einschalten der Herzschrittmacher, und falls die funktionierten, gemeinsames Absingen des Lieds »Wir sind die junge Garde der Revolution«. Der in Ostberlin geborene Organist der gesamtdeutschen Band »Rammstein«, Flake Lorenz, provoziert: »In meinen Augen hat es Freiheit in der DDR auch gegeben. Weil das ganze Land an sich so eine Art Spielzeugland war. So, als bliebe man immer ein Kind.«
    Das andere Leben, das er offenbar meint, fand parallel zum genormten, von der Stasi überwachten Leben statt. Günter Gaus, der verstorbene ehemalige politische Repräsentant der alten Bundesrepublik in Ostberlin, ein kühler politischer Analytiker, auch nach seiner Amtszeit ständiger Vertreter des ihm ans Herz gewachsenen Ostens, prägte dafür den klassischen Begriff der »Nischengesellschaft«. Der von der Stasi terrorisierte und deshalb 1979 in den Westen übergesiedelte Dichter Günter Kunert hält dagegen, dass es auch in den Nischen keine »Schlupfwinkel gegeben hat, wenn ein höheres Interesse sich regte. In diesem Land gab es nie und nirgendwo eine Zuflucht vor den Augen des Apparates.« Und auch das stimmt, denn man kennt inzwischen viele aufgedeckte Fälle von Verrat in den scheinbar abhörsicheren vier Wänden der privaten Welt. Es liegen genügend Belege dafür vor, dass die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) der Stasi nicht draußen auf der Lauer lagen, sondern mitten unter ihnen waren – als Freunde, als Kollegen, als Angehörige. Andere
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