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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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»Sie hat ihn im Testament bevorzugt, sie hat ihn immer bevorzugt.«
    Ich erzähle meinem Pflegevater, dass meiner Großmutter immer bewusst gewesen sei, dass Walter nicht nur der jüngere Bruder, sondern auch der schwächere war und ihre Hilfe brauchte. Was ich nicht sage, aber denke, ist, warum Necko noch immer glaubt, dass sich Liebe am Geld misst. Sein Bruder Walter ist lange vor ihm an einem Herzinfarkt gestorben.
    Als Necko noch einmal das Gespräch auf seine Mutter bringt, sage ich ihm, während es an die Tür klopft und eine Krankenschwester einen Strauß weißer Gladiolen hereinträgt: »Ich weiß, wie sehr sie dich geliebt hat, weil ich weiß, wie sehr sie mich geliebt hat.« Es ist eine gute Begegnung zwischen meinem Pflegevater und mir, und sie fühlt sich auch so an. Es hätte ein Neuanfang werden können, aber dafür bleibt uns keine Zeit mehr.
    Das letzte Mal sehe ich meinen Pflegevater in Berlin zusammen mit meinem Mann Dietmar. Es ist kurz vor seinem Tod. Er ist in Begleitung seiner Sekretärin und Vertrauten Gerda Singer zu einer Veranstaltung der Sporthilfe nach Berlin gekommen. Wir treffen uns im »Kempinski« am Kurfürstendamm zum Abendessen. Necko hat eine kleine Wunde an der Stirn, die er mit einem Pflaster verdeckt. Er ist mit dem Kopf auf das Waschbecken gefallen, als es ihm beim Rasieren schwarz vor Augen wurde.
    Dieses Treffen ist neben dem Besuch im Krankenhaus in meiner Erinnerung die persönlichste Begegnung mit meinem Pflegevater, und es ist eine Begegnung auf Augenhöhe. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart, und ich fühle mich frei. Ich beobachte sogar eine Wärme und Verschmitztheit an ihm, die mich an meine Großmutter erinnern. Zum ersten Mal erzähle ich Necko von unserem Leben damals im Gartenhaus in Würzburg. Er staunt, wie vertraut meine Großmutter und ich miteinander gewesen sind, was sie mir alles erzählt hat und woran ich mich noch erinnern kann. An diesem Abend ist eine Nähe zwischen uns, die auf einer gemeinsamen Liebe beruht, der Liebe zu meiner Großmutter, seiner Mutsch.
    Necko stirbt am 13. Januar 1992. Der unheilbare Krebs wird durch Zufall im Oktober 1991 während eines Aufenthalts im Rottacher Ferienhaus entdeckt, als er sich bei einem Sturz verletzt und in der Klinik untersucht wird. Die Diagnose lautet Lungenkrebs im letzten Stadium. Necko wird nicht mehr operiert. Es gibt keine Hoffnung. Sein letzter offizieller Auftritt ist eine Kuratoriumssitzung. Er ist so abgemagert, dass Wolfgang Schäuble, der neben ihm im Rollstuhl sitzt, zu ihm sagt: »Ach, Herr Neckermann, was müssen wir beide alles aushalten.« Als er Maria Engelberti davon erzählt, klingt in seiner Stimme kindlicher Stolz mit.
    Anfang Dezember ruft Necko im Beisein seiner Haushälterin Maria die »Bild«-Zeitung an, um dem Chef vom Dienst mitzuteilen, dass er fünfzehn Kilo abgenommen habe. Am nächsten Tag ist diese Information der Aufmacher des Massenblattes. Necko kann es nicht lassen. Das Interesse der Öffentlichkeit bleibt ihm wichtig, auch noch in den letzten Wochen seines Lebens. Mein Pflegevater ist wie ein altes Zirkuspferd, das unter dem Applaus der Menge noch eine Abschiedsrunde drehen will.
    Neckos Wunsch, auch von der Nachwelt nicht vergessen zu werden, ist so stark, dass er das Ferienhaus in Rottach seinem ältesten Sohn Peter vererbt. Ausschlaggebend ist dessen Versprechen, aus dem Ferienhaus ein »Neckermann-Museum« zu machen. Necko möchte, dass dort seine Erfolge in Beruf und Sport dokumentiert werden und auf diese Weise seine Medaillen, seine Pokale, die Gemälde seiner Pferde sowie Unterlagen und Filmaufzeichnungen zur Firmengeschichte wie zu seinen sportlichen Höhepunkten der Nachwelt erhalten bleiben. Zu dem versprochenen »Neckermann-Museum« ist es nicht gekommen. Nach Neckos Tod verkauft sein ältester Sohn Peter das Anwesen. Sein jüngerer Sohn Johannes erledigt in der Auktion der »Sammlung Neckermann« den Rest.
    Maria Engelberti ist auch in der letzten Nacht seines Lebens bei ihrem Chef. Sie schläft in Annemis Zimmer, in dem sein Krankenlager eingerichtet ist, auf einer Matratze auf dem Boden. Maria ist die Einzige, die in der Todesstunde meines Pflegevaters bei ihm ist. Im Haus im Hainerweg befinden sich auch meine Stiefschwester Evi und Gerda Singer. Um zwei Uhr morgens hört Maria, dass Necko noch etwas sagen will. Er spricht noch leiser als sonst. Sie kann die Worte nicht verstehen. Er liegt auf der Seite, die Beine angewinkelt, die eine Hand unter dem
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