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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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denen noch immer Zusammentreffen mit der weitverzweigten Familie gehören, aber keine großen Gesellschaften mehr.
    Meine Pflegemutter ist nach einer weiteren Operation sehr geschwächt. Bei einem meiner letzten Besuche zusammen mit meinem jüngsten Sohn Lukas erscheint sie in einem hellblauen, flauschigen Morgenmantel mit sorgsam gebundener Satinschleife zum Frühstück. Es ist noch sehr früh, aber sie ist bereits so geschminkt, als wollte sie gleich ausgehen. Nur ihre Augen sind trüb und haben sich noch tiefer in ihre Höhlen zurückgezogen, die dunklen Ringe darum herum bilden einen traurigen Kontrast zum hellen Blau der Lidschatten. Kerzengerade sitzt Annemi neben Necko am Frühstückstisch.
    Ich weiß, dass sie Schmerzen hat, und ihr Mann weiß es auch. Das zuvorkommende Lächeln, das mein Pflegevater während des Frühstücks aufgelegt hat, wirkt hilflos. Als Necko meinen Sohn Lukas fragt, warum er denn keinen Appetit habe, schaut dieser ihn verlegen an. Lukas fühlt sich unwohl, aber er sagt nichts. Als wir allein sind, fragt er mich: »Müssen wir noch mal hierher?«
    Ich sehe, wie vorsichtig meine Pflegeeltern miteinander umgehen. Sie sind befangen und in sich gefangen. Es fällt ihnen schwer, die ein Leben lang praktizierte Haltung zu bewahren: Annemi, weil das Aufsein sie erschöpft und sie dennoch ihrem Mann das Gefühl geben möchte, dass trotz ihrer Krankheit alles noch so ist wie früher, und Necko, weil er weiß, dass nichts mehr so ist wie früher, aber so tut, als ob er es glaubt.
    Nach ungefähr zwanzig angespannten gemeinsamen Minuten am Frühstückstisch steht Necko auf, küsst seine Frau auf die Stirn und sagt besorgt: »Annemi, geh wieder ins Bett und übernimm dich nicht.« Hilflos verlieren sich seine Worte im Raum. Die beiden Menschen, die mehr als ein halbes Jahrhundert miteinander gelebt und durchlebt haben, haben keine Sprache mehr, einander zu erreichen.
    Es ist die Lebenstragik meiner Pflegemutter, dass sich ihr Mann, ihre Familie und ihre Umwelt an das von ihr vorgegebene Bild eines Menschen ohne Schwächen, physische wie psychische, gewöhnt haben. Als Annemi, durch ihre Krankheit gezeichnet, diese sich selbst auferlegte Rolle nicht mehr erfüllen kann, steht sie sich hilflos gegenüber und ihre Umwelt ihr, vor allem Necko. Er tut, was er bei privaten Problemen immer getan hat, er zieht sich in seine Arbeit zurück. Obwohl es inzwischen nur noch die Sporthilfe ist, gibt es noch immer genug Termine außer Haus, die er wahrnehmen kann.
    Auch Annemis Kinder, die eigenen wie die angenommenen, sind hilflos und müssen erkennen, wie schwer es ist, die Beziehung zur Mutter auf einem neuen Koordinatensystem aufzubauen, bei dem gleichberechtigte Liebe und freundschaftliches Vertrauen an die Stelle von abhängiger Liebe und Bewunderung treten. Es gelingt ihnen nicht.
    Die Reden, die ihre Kinder, Peter, Johannes und diesmal auch Evi, inzwischen selber Familienväter und -mütter, zu Annemis siebzigstem Geburtstag halten, legen ein eindrucksvolles Zeugnis davon ab. Sie erinnern in Tonart und Duktus an die Auftritte ihrer Kindheit: Peter, ernst, inhaltsschwer und voller Bewunderung, Johannes mit lockerer Zunge und kindlichem Tonfall, Evi verlegen wie ein kleines Schulmädchen. Sie sind im Dialog mit ihrer Mutter wieder zu kleinen Kindern geworden, die zwar nicht mehr das Christkind suchen, aber noch immer die Liebe ihrer Mutter.
    Meine Stiefschwester Evi versucht es mit Reimen: »Nun werf ich alle Regeln über Bord/und melde mich als Frau zu Wort.« Es hat sie Überwindung gekostet, weil Frauen nach der Vorstellung meines Pflegevaters nicht in der Öffentlichkeit auftreten, nicht einmal im fast familiären Rahmen einer Geburtstagsfeier. Sie wird von den Anwesenden mit derselben wohlwollenden Geduld bedacht wie damals beim Vortrag von Annemis Weihnachtsgedicht vom Winter, »der sich auf leisen Sohlen einstellt«.
    Der siebzigste Geburtstag meines Pflegevaters ist das einzige Mal, das Annemi die Familienregel, dass Frauen keine Reden halten, durchbricht. Wie inzwischen die meisten Neckermann-Familienfeste seit dem Umzug nach Kirchborn wird der siebzigste Geburtstag meines Pflegevaters auf Gut Neuhof bei Frankfurt gefeiert. Der 5. Juni 1982 ist ein herrlicher Frühsommertag. Mit meinem jüngsten Sohn Lukas und meinem damaligen Mann Dietmar bin ich aus Berlin angereist. Bundespräsident Dr. Karl Carstens wird aus diesem Anlass mit einem Hubschrauber eingeflogen und landet zum ungläubigen Staunen
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