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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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bei ihr wacht und ihr Mut zuspricht. Maria hat diese Nähe als Glück empfunden. Das gehört zu ihren guten Erinnerungen.
    Als die Ärzte bei meiner Pflegemutter Jahre zuvor zum ersten Mal Krebs diagnostizieren, empfindet Annemi das als persönliche Niederlage, doch sie ist nicht gewillt, klein beizugeben, und schon gar nicht, die Prinzipien preiszugeben, die sie ein Leben lang aufrechterhalten hat: Selbstdisziplin und Perfektionismus. Die ihr von den Ärzten dringend geratene Chemotherapie lehnt sie ab, da ihr durch diese Behandlung die Haare ausfallen würden. Eine Perücke möchte sie nicht tragen. Die Ärzte können sie auch nicht dazu bewegen, ungeschminkt in den Operationssaal zu gehen, sie erklärt sich notgedrungen nur bereit, ihren Schmuck abzulegen. Dem Wunsch der Ärzte, vor der Operation den Nagellack zu entfernen, da Beschaffenheit und Färbung der Nägel Auskunft über bestimmte Aspekte ihres körperlichen Zustands geben, kommt Annemi lediglich insoweit entgegen, als ihre Haushälterin Maria, die ohnedies im Krankenzimmer bei ihr schläft, sie mit einem Azetonfläschchen und einem Wattebausch bis zur Tür des Operationssaals begleiten darf, um dort wenigsten, vom kleinen Finger den Nagellack zu entfernen.
    In ihren letzten Lebensjahren wird meine Pflegemutter von einer tiefen Traurigkeit heimgesucht. Als ihr der Neurologe Professor Freitag ein Medikament verschreiben möchte, mit dem man, wie er meint, »die Welt rosarot sieht«, lehnt sie ab. Psychopharmaka, die ihre Empfindungen und ihre Wahrnehmung verändern könnten, kann sie nicht für sich akzeptieren, selbst um den Preis der Depression. Annemi kämpft, aber sie tut es auf ihre Weise, still und zäh, und sie bleibt sich treu. Über ihre körperlichen und seelischen Leiden spricht sie auch in dieser Zeit nicht. Sie hat es nie getan.
    Stattdessen liest sie nun viel. Die Welt der Angélique, die sie einst so fasziniert hat, ist in weite Ferne gerückt. Nicht mehr Anne Golon ist jetzt ihre bevorzugte Autorin, sondern Elisabeth Kübler-Ross. Deren Bücher helfen ihr dabei, den Gedanken an den Tod, dem sie schon so nahe ist, zuzulassen. Sie liest die Interviews mit Sterbenden, Was können wir noch tun? und Reif werden zum Tode . Wann genau dieser Moment da ist, an dem meine Pflegemutter beginnt loszulassen, weiß nicht einmal die treue Maria, und doch spürt sie die Veränderung.
    Noch ein letztes Mal fasst Annemi Mut zum Leben und erzielt einen Teilerfolg. Nach dreizehn Operationen und unsagbaren Schmerzen, die ein weiterer Tumor an der Wirbelsäule verursacht, stellt sich eine vorübergehende Besserung ein. Im Frühjahr 1989 besucht Annemi zum ersten und einzigen Mal gemeinsam mit ihrem Mann die Osterfestspiele in Salzburg. Es ist das letzte Konzert, das Herbert von Karajan dirigiert, mit dem meine Pflegeeltern durch gemeinsame Konzerte für die Sporthilfe befreundet sind. Annemi blüht noch einmal auf. Für sie ist Musik die größte Beglückung ihres Lebens geblieben, und diesmal erlebt sie sie an der Seite ihres Mannes. Zwei Monate später ist sie tot.
    An Pfingsten, als die Familie auf dem alljährlichen Reitturnier in Wiesbaden ist, muss Annemi wieder ins Krankenhaus. Es ist der erste warme Frühlingstag des Jahres, die Sonne scheint ins Krankenzimmer, und Maria meint, als sie den Koffer ihrer Chefin auspackt: »Das ist ein gutes Zeichen. Es wird Sommer.« Meine Pflegemutter dreht sich sichtlich geschwächt zu ihr um und sagt wie zu sich selbst: »Diesmal komme ich hier nicht mehr raus.« Eine weitere Operation, die erforderlich wäre, um die anhaltenden Blutungen zu stillen, lehnt sie ab. Als die Ärzte ratlos das Krankenzimmer verlassen, wird Annemi ganz ruhig und sagt zu Maria: »Jetzt warte ich auf keinen mehr. Ich gehe.« In ihrer letzten Nacht wachen Maria und meine Schwester Uschi an ihrem Krankenbett.
    Am nächsten Morgen kommen mein Pflegevater und meine Stiefschwester Evi, die aus Kanada angereist ist, noch rechtzeitig, um Abschied zu nehmen. Annemi stirbt am Pfingstdienstag, dem 16. Mai 1989, um fünf Minuten nach zwölf. Wenige Stunden vor ihrem Tod spricht sie immer wieder davon, ob es das gleißende Licht tatsächlich gibt, das beim Übergang vom Leben zum Tod am Ende des Tunnels aufleuchten soll. Ich bin sicher, meine Pflegemutter hat es gesehen.
    Maria, die Vertraute ihrer Leidenszeit, geht mit Annemi auch das letzte Stück des gemeinsamen jahrzehntelangen Weges. Sie kleidet sie für ihren Gang ins Jenseits so sorgfältig, wie
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