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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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»Seine Vielseitigkeit, seine Kreativität und dass er einen Weg gefunden hat, seine Träume zu realisieren.« Johannes, diesen Eindruck vermittelt er mir in dem Fernsehauftritt, hat auch seine Träume verwirklicht, selbst wenn sie wenig mit denen seines Vaters zu tun haben. Vielleicht hat er es ja richtig gemacht. Das System Neckermann hat ihn nicht gebrochen.
    Aus dem gewitzten kleinen Jungen mit Zahnspange, Haarklammer und Lederhose, der am Heiligen Abend ein Konkurrenzunternehmen zum Kaufladen der Geschwister aufmacht, ist vielleicht kein guter Kaufmann geworden, aber ein geschickter Händler alter Kunst und alter Weine. Den Höhepunkt seiner Karriere stellt 2009 die Auktion »Sammlung Neckermann« im Auktionshaus Nagel in Stuttgart dar. Die Bezeichnung »Sammlung Neckermann« legt fälschlicherweise nahe, dass es sich bei den Exponaten um während eines langen Lebens von Josef und Annemi Neckermann zusammengetragene Objekte handelt, die für potentielle Interessenten nicht nur einen realen, sondern auch einen ideellen bis sentimentalen Wert haben. Stattdessen stammt der weitaus größte Teil der Stücke aus dem Besitz ihres Sohnes und Kunsthändlers Johannes.
    Die »Bunte« reagiert auf die Auktion mit einem nicht mehr ganz so freundlichen Artikel. Die Überschrift »Alles muss raus!« erinnert weniger an eine Versteigerung als einen Schlussverkauf. Auf die Frage des Journalisten »Warum versteigern die Neckermanns ihr Tafelsilber?« meint Johannes: »Materielle Werte spielen irgendwann keine so große Rolle mehr.«
    Dass der letzte noch lebende Sohn Josef Neckermanns selbst das goldene Streichholzetui mit den Initialen JN und die vierteilige lederne Schreibtischgarnitur seines Vaters, die er schon als kleiner Junge auf dessen Arbeitstisch gesehen hat, anbietet und sogar das im Auktionskatalog als Lieblingsbild seiner tödlich verunglückten ersten Frau Ingrun angekündigte Gemälde »Die tausendjährige Eiche« von Carl Friedrich Lessing unter den Hammer bringt, hat wohl mehr mit mangelnden ideellen Werten zu tun.
    Mit diesem traurigen Ausverkauf, der in der Geschichte der Familie Neckermann eine unrühmliche Zäsur bildet und bei dem meine Schwester Uschi in Erinnerung an gemeinsame Kaffeekränzchen bei Annemi zwei Porzellanschälchen für Gebäck ersteigert und die treue Haushälterin Maria Engelberti im Andenken an ihre Herrschaft zwei Schildkrötensuppentässchen mit Deckel, eile ich der Zeit weit voraus. Zunächst vervollständigen besagte Schälchen und Suppentassen noch den Geschirrbestand des Neckermann’schen Haushalts.
    Maria Engelberti, die meine Pflegeeltern bis zu deren Tod liebevoll betreut, hat, wie vor ihr Klärchen, das System zwischen Herrschaft und Hausmädchen, in dem Überstunden nicht mit Lohn, sondern mit guten Worten abgegolten werden, nur zu Beginn in Frage gestellt. Marias Bitte, eine Unfallversicherung für sie abzuschließen, stößt bei Annemi auf Unverständnis. Sie empfindet das Ansinnen als Vertrauensbruch: »Wie kannst du so etwas verlangen, wir sorgen doch für dich, wenn du etwas brauchst.« Dass sich die berufliche Realität im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verändert hat, nimmt Annemi, ganz in ihrer Weltordnung von Herrschaft und Bediensteten gefangen, gar nicht wahr. Im Alter von dreißig Jahren darf Maria Engelberti, eine füllige Blondine mit Lachfalten und Lebenslust, nur bis zehn Uhr abends ausgehen. Annemis moralischer Imperativ gilt auch für das Personal. Als Maria zusammen mit ihr einen Dokumentarfilm über den »Ersten Kuss« anschaut, schaltet ihre Chefin den Fernseher unvermittelt mit den Worten ab: »Dafür bist du noch zu jung.«
    Die tatkräftige Maria ist aus dem Leben meiner Pflegemutter schon bald nicht mehr wegzudenken. Sie nennt sie »mein Mädchen für alles«. Maria ist nicht ihre Angestellte, sie ist ihr Eigentum. Die so Vereinnahmte hat sich nie ernsthaft gewehrt. Ihre eigene Mutter ist nicht anders mit ihr umgegangen. Maria sagt: »Meine Mutter sitzt mit dem Hintern auf der Familie, Annemi hat sie mit den Krallen im Griff.«
    Die Haushälterin Maria gehört zu den wenigen Menschen, die Annemi in ihren letzten Lebensjahren wirklich nahegekommen sind. In dieser von Krankheit gezeichneten Zeit sind es nicht die eigenen oder die angenommenen Kinder, bei denen Annemi endlich so schwach und hilflos sein kann, wie sie sich fühlt. Es ist die Haushälterin Maria, die sie mit dem Rollstuhl spazieren fährt, sie auf ihren kräftigen Armen ins Bett trägt,
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