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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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meines Sohnes auf dem Acker neben dem Gutshof. Zu Ehren meines Pflegevaters sind die großen deutschen Dressurreiter dieser Zeit gekommen, um für ihn eine Olympia-Quadrille zu reiten: Willi Schultheis, Ann Kathrin Linsenhoff, Harry Boldt, Herbert Krug, Reiner und Ruth Klimke, die Theodorescus, Uwe Sauer und Gabriela Grillo. Dass meine Halbschwester Evi in der Quadrille mitreitet, macht beide stolz, Vater und Tochter.
    Annemi hält ihre Rede nicht frei, sondern liest den Text ab, an dem sie lange gearbeitet hat. Sie erinnert sich an unbeschwerte, verliebte Jungmädchentage, sie erzählt, wie Necko, als sie zurück ins Internat Schloss Wieblingen muss, vor den Augen ihrer Eltern auf den fahrenden Zug springt oder wie er nachts pfeifend und beladen mit Pralinen und Sekt vor ihrem Fenster steht. Trotz der mehr als zweihundert Gäste spricht Annemi nur zu ihrem Mann. Sie erzählt, wie er überraschend auf einem Rosenmontagsball aufgetaucht sei und alle Konkurrenten aus dem Saal geprügelt habe. Dann geht sie über zu seinen Erfolgen im Beruf und im Sport und bekennt, dass sie an seiner Seite über »höchste Höhen und durch tiefste Tiefen« gegangen sei: »Das Leben mit dir ist nie langweilig gewesen. Du hast es mir aber oft nicht leicht gemacht, und es gab Augenblicke, da hätte ich gerne meine Koffer gepackt und wäre von dir geflohen, aber wohin mit sieben bis zehn Kindern, und was wird aus dir?«
    Dass aus seinem Vater etwas Großes geworden ist, daran lässt sein Sohn Peter keinen Zweifel. Seine den Vater glorifizierende Rede entspricht in ihrem unreflektierten, fast kindlichen Überschwang nicht der eher sachlichen, nüchternen Art meines Stiefbruders. In der bedingungslosen Verehrung, die der Älteste seinem Vater entgegenbringt, finden sich Parallelen zu Neckos Bewunderung für seinen Vater Carl Josef.
    Der Eigenbrötler und Außenseiter, als der sich Peter schon in jungen Jahren auf dem Familienfoto auf der Treppe in Oberursel dargestellt hat, ist mein Stiefbruder immer geblieben. Er, der als Junge mehr Zeit mit seinen Schäferhunden als mit den Geschwistern verbringt, der lieber Berge besteigt und Tennis spielt als zu reiten und später lieber hinter seinen wissenschaftlichen Büchern sitzt als auf einem Chefsessel, hat nicht die Vitalität und Genialität seines Vaters, auch nicht die Frechheit und Lebenslust seines jüngeren Bruders Johannes. In Ohio, wohin mein Stiefbruder Peter nach der Firmenübernahme durch Karstadt mit seiner Frau Jutta und den Kindern Christian und Susanne auswandert, macht er an der Columbia-Universität seinen Doktor in Volkswirtschaft. Nach einer Geschäftsreise, die ihn nach Japan und China führt, erkrankt Peter. Zu spät erkennen die Ärzte den gefährlichen asiatischen Virus. Mein Stiefbruder erleidet einen Hirnschlag und verbringt die letzten acht Jahre seines Lebens im Rollstuhl in unfreiwilliger innerer Isolation, von seiner Familie liebevoll betreut. Er stirbt 2006 im Alter von siebzig Jahren.
    Und wieder ist es mein Stiefbruder Johannes, der in seiner Rolle als selbsternannter Familiensprecher die Medien informiert und im Magazin »Bunte« ein Interview zum Tod seines Bruders gibt. Neben einem kleinen Foto des Verstorbenen schmücken ein Porträt von Johannes, das ein Viertel der Seite einnimmt, und zwei weitere von seiner vor Jahrzehnten verstorbenen ersten Frau Ingrun den Bericht.
    Drei Jahre zuvor, im Frühjahr 2003, sehe ich Johannes zufällig im Fernsehen in einer sonnabendlichen Ratesendung über Gestalten der Geschichte. Bei dem Fernsehauftritt trägt Johannes einen dunklen Zweireiher, eine weinrote Seidenkrawatte und rote Socken, die unter der Hose hervorblitzen, als er lässig die Beine übereinanderschlägt. Die lange Nase und die Geheimratsecken, an denen alle Männer der Neckermann’schen Linie zu erkennen sind, sind noch spitzer geworden. Seine Vorliebe für Schmuck scheint er auch in vorgerücktem Alter nicht abgelegt zu haben. Eine Krawattennadel mit Brillanten, ein Brillantring und ein Goldarmband zeugen davon.
    Seine Erscheinung und sein Auftreten sind nicht unsympathisch. Er spricht leise und mit einer gekonnten Stimmmodulation, die mich an seine Rede bei der Schlüsselübergabe anlässlich der Einweihungsfeier der Firmenzentrale am Ostbahnhof erinnert. Der Interviewpartner fragt: »Was bewundern Sie an Ihrem Vater Josef Neckermann am meisten?« Seine Antwort ist glaubwürdig und klingt spontan, selbst wenn er sich auf die Fragen gut vorbereitet hat:
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