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Wie ein Haus aus Karten

Wie ein Haus aus Karten

Titel: Wie ein Haus aus Karten
Autoren: Kristin Feireiss
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die schönsten Schuhe heraus, später ist es mit den Mädchen genauso.
    1978 ereignet sich die erste Tragödie seines jungen Lebens. Mit siebzehn Jahren gerät Jo-Jo mit seinem Motorrad auf einer regennassen Kurve ins Schleudern. Er stürzt und wird von einem Baufahrzeug überrollt. Das eine Bein wird unterhalb des Knies amputiert. Der Schock sitzt tief. Es ist nicht nur das beklagenswerte Schicksal, das die ganze Familie bewegt, der beinamputierte Enkel wirft auch einen ersten Schatten auf das bis dahin ungetrübte Bild der makellosen und leistungsstarken Familie Neckermann. Jo-Jo fühlt es, und er will beweisen, dass er trotzdem einer von ihnen ist.
    Die Großeltern erkennen die Bemühungen ihres Enkels an. Im Weihnachts-Rundbrief von 1980 schreibt meine Pflegemutter: »Jo-Jo hat eine neue Prothese, mit der er sehr gut zurechtkommt. Er läuft Ski, tanzt, spielt Tennis, fährt Auto, ein Unwissender merkt überhaupt nichts.« Auch Necko findet in seinen Erinnerungen anerkennende Wort für seinen Enkel: »Jo-Jo zeigte sich als echter Kämpfer. (…) Er trainierte so lange, bis man beim Gehen nicht mehr merkte, dass er unterschenkelamputiert war.«
    Von den Schmerzen mit den immer neuen Prothesen, der Kraft, die es den Enkel kostet, ist in den Weihnachtsbriefen nichts zu lesen. Seine Mutter Evi erzählt mir auf der Goldenen Hochzeit der Eltern, als ihr Sohn bereits tot ist, davon. Sie ist Jo-Jos engste Vertraute, und sie kennt den Leidensweg ihres Ältesten besser als jeder andere. Sie ist ihm dankbar für die Anstrengungen, die er auf sich nimmt, um über die Amputation hinwegzutäuschen. Doch auch wenn Außenstehende den Makel nicht mehr wahrnehmen, Jo-Jo bleibt ein Gezeichneter. An die Haushälterin Maria Engelberti, die inzwischen für die sporadisch auftauchenden Enkelkinder der ruhende Pol im Hause Neckermann ist, schreibt er einige Monate nach seinem Verkehrsunfall: »Noch immer gibt es Nächte, in denen ich alles noch einmal erlebe. Vielleicht hätte ich es vermeiden können, wer weiß! Nur eines weiß ich, dass ich trotz aller rührenden Hilfe meiner Eltern allein mit meinem Schicksal fertig werden muss und dass ich das auch schaffe.«
    Jo-Jo hat es nicht geschafft. Er hat keine Chance. Am 16. August 1984, dem Tag der Goldenen Hochzeit seiner Großeltern und dem 24. Hochzeitstag seiner Eltern, nimmt sich Jo-Jo das Leben. Er springt in der Nähe von Haiger, wo er wie damals sein Vater Hans Pracht zum Speditionskaufmann ausgebildet wird, von einer Autobahnbrücke.
    Die Geschichte, die mit einem Streich beginnt, endet mit dem Tod. Jo-Jo will seiner ehemaligen Freundin Silke, die seit seinem zwölften Lebensjahr seine große Liebe ist, aus Enttäuschung darüber, dass sie ihn verlassen hat, einen Denkzettel verpassen. Mit Wissen gemeinsamer Freunde und der Hilfe seiner neuen Freundin, die in einem Labor arbeitet, gibt er auf einer Feier Kupfersulfat in Silkes Getränk. Als das Mädchen mehrfach erbricht und erfährt, was sie getrunken hat, bekommt sie Angst. Ihre Eltern, die sie ins Krankenhaus bringen, in dem sie drei Tage zur Beobachtung bleiben muss, verlangen von Jo-Jo, dass er den Krankenhausaufenthalt bezahlt, da die Kasse bei Fremdverschulden nicht für die Kosten aufkommt. Und sie möchten, dass er sich entschuldigt. Als Jo-Jo versucht, seine Stereoanlage zu verkaufen, um die Krankenhauskosten begleichen zu können, verbietet es ihm seine Mutter. Sie möchte auch nicht, dass er sich entschuldigt.
    Wochen später meldet sich die Staatsanwaltschaft, um zu prüfen, ob es zu einer Anklage kommt. Als die Presse beginnt, sich für den Fall des Neckermann-Enkels zu interessieren, reagiert Evi ihrem Sohn gegenüber mit den Worten »Wenn es zur Anklage kommt, kann ich dir nicht mehr helfen«. Es kommt nicht zur Anklage, helfen kann sie ihrem Sohn dennoch nicht mehr. Mutter und Sohn haben beide Angst: Jo-Jo vor seinen Großeltern und seine Mutter vor ihren Eltern. Meine Stiefschwester Evi, noch immer erst Tochter und dann Mutter, wagt nicht, mit ihren Eltern offen darüber zu sprechen. Es gelingt ihr nicht, sich in dieser entscheidenden Situation von deren übermächtiger moralischer Instanz unabhängig zu machen. Sie schweigt und lässt ihren Sohn schweigen. Beide sind sie hilflos.
    Das alles spielt sich wenige Tage vor der Goldenen Hochzeit meiner Pflegeeltern ab. Evi möchte das Bekenntnis über die vermeintliche Schande, die ihr Sohn über die Familie gebracht hat, hinauszögern und hofft, bis nach dem Fest
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