Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Autoren: Sasa Stanisic
Vom Netzwerk:
Seltenheit in unserer Stadt. Nachdem Opa Rafik beigesetzt wurde, soll sie an seinem Grab gesagt haben: ich habe nichts gekocht, nichts mitgebracht und nichts Schwarzes angezogen, aber zu verzeihen habe ich ein Buch voll. Sie soll eine Menge Zettel ausgepackt und angefangen haben, daraus vorzulesen. Einen Tag und eine Nacht soll sie dagestanden und Wort für Wort, Satz für Satz, Seite für Seite – verziehen
haben. Danach sprach sie nichts mehr und reagierte nie wieder auf irgendeine Frage.
    Nena Fatima hat die genauen Augen eines Falken, kju, ket-ket, sie erkennt mich, bevor ich in ihre Straße einbiege, und trägt Kopftücher. Nenas Haar ist Geheimsache – lang und rot und schön verrät sie es mir, wenn wir im Sommer vor ihrem Häuschen Börek essen und die Drina mit Hackfleisch füttern. Kalter Joghurt, gesalzene Zwiebeln, warme Geräuschlosigkeit von Nenas Schaukeln im Schneidersitz. Der Teig glänzt vor nützlichem Fett. Nena wiegt sich hin und her und zündet sich eine Zigarette an, wenn ich satt bin. Ich bin der leiseste Enkel der Welt, um ihre Stille und unseren Sonnenuntergang nicht zu zerstreuen. Die Schwüle sammelt sich über dem Fluss und sieht aufmerksam Nena Fatima zu, die sich summend die Geheimsache zu einem langen Zopf flechtet. Mit niemandem lache ich mich so leise kaputt wie mit meiner Nena, niemandem sonst kämme ich das Haar.
    Nena Fatima kommt in Begleitung meines Vaters in den Keller. Sie bleibt auf der untersten Treppenstufe stehen wie Aziz bei seiner Rede. Sie rückt das Kopftuch gerade und hinterlässt dabei einen Streifen Erde auf der Stirn. Sie war im Garten, sagt Vater. Mutter umarmt Nena Fatima, als sei Nena die Tochter, die sich verlaufen hat, wütend und froh. Nena gestikuliert mit dem Daumen zum Mund: ich habe Durst. Ich schreibe »Fatima« auf einen Becher. Alle Becher bekommen unsere Namen. Einen habe ich »Slavko« genannt, einen anderen »Johann Sebastian«, einen dritten »Herpes« und einen vierten »Jürgen, der Motorradfahrer«. Milica fand das unglaublich komisch und beschriftete ihren mit »Marienkäfer«. Nena trinkt aus. Mit dem Wasser aus dem zweiten Becher wäscht sie sich die Hände. Alle sehen sie an. Sie öffnet den Mund, einatmend, als möchte sie sich erklären. Aber sie gähnt bloß, schmatzt genüsslich, und küsst Ema auf die Stirn.
    Ema ist eine Kussablage.
    Nena, flüstere ich, sei froh!
    Wenn man den ganzen Tag den Krach hört und dann der
Krach ausgeht, fragt man sich: wo ist der Krach hin? Kommt er näher, um besser zu treffen? Ist die Munition aus? Arbeiten Soldaten nicht in Schichten? Oder ist alles vorbei? Trotz dieser nächtlichen Ruhe muss ich auf dem Boden schlafen, Regel Nummer eins: weg von den Fenstern, sagt meine Mutter. Ich schlafe unter dem Couchtisch, Mutter hat an der Unterseite ein Kissen über meinem Kopf geklebt, damit ich mich nicht stoße, falls ich hochschrecke. Sie deckt mich zu.
    Ein Hochhaus, und alle schlafen auf dem Boden, weil man auf einem Bett dem Fenster näher wäre. Alle sehen vom Boden aus fern, es kommen nur Nachrichten und Pressekonferenzen und Bilder von Menschen in langen Kolonnen. Ich lerne, was »organisierter Widerstand« bedeutet, wer die Territoriale Verteidigung ist und wozu Barrikaden dienen.
    Ich schließe die Augen und höre Opa Slavkos Stimme. Im Wohnzimmer und im Kissen über meinem Kopf und draußen vor dem Fenster. Ich konzentriere mich so sehr darauf, herauszufinden, woher die Stimme kommt, dass ich kein Wort verstehe. Zum ersten Mal, seit er tot ist, lebt Opa wieder, und ich verpasse es. An Einschlafen ist nicht mehr zu denken, ich hole mir aus der Küche einen Zahnstocher und breche Regel Nummer eins: Jemand mit einem Kühlschrank auf dem Rücken überquert die Kreuzung vor dem Gebäude. Es ist Radovan Bunda aus dem fünften Stock, er setzt den Kühlschrank nicht ein einziges Mal ab und verschwindet, die Straße hinauf in die Dunkelheit. Ich lege mich wieder unter den Tisch, warte, dass Opas Stimme wieder kommt. Um Mitternacht kann ich den Zahnstocher schon sehr schnell aus einem Mundwinkel in den anderen schieben. Am nächsten Morgen weckt mich mein Vater.
    Hier, Aleksandar, Onkel hat dir die Mauer dagelassen.
    Wo ist er hin?
    Ja.
    Onkel Bora, Tante Taifun und Ema sind über Nacht aus der Stadt geflohen. Niemand hielt das für klug, niemand hielt das für nicht klug, niemand hielt sie auf.

    Wäre ich Fähigkeitenzauberer, würden wir alle so schnell sein wie Tante Taifun, damit wir jeder Kugel
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher