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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Autoren: Sasa Stanisic
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zurückgeschlichen sind, und uns hinsetzen, als sei nichts gewesen.
    Ich male mit zitternder Hand einen schlanken Onkel Bora.
    Blute ich?
    Ich male eine Wunde ohne Blut.
    Was, falls dieser Mann wirklich unseren Staudamm sprengt, wie er es im Radio fluchend verspricht, obwohl der andere Mann zu ihm sagt: alle Ehre, aber das mach bitte nicht! Der Mann am Staudamm hat auch Ivo Andrićs Statue im Park vor der Brücke mit einem Vorschlaghammer zertrümmert. Ihm ist alles zuzutrauen.
    Ich male eine Eidechse mit Schwanz.
    Was, wenn jemand herausfindet, dass wir in die Trafik eingebrochen sind?
    Wie viel Dynamit braucht es für so einen Staudamm und was würden sich die Drina und die Fische denken?
    Ich male einen Moment der Ruhe.
     
    Dort liest ein Baby in Militärjacke Zeitung.
    Dort zieht sich ein Junge mit Goldzahn eine Rolex an.
    Dort rührt ein einäugiger Riese mit einem Kreuz am Halsband und einem Halbmond am Armband in einem Topf.
    Dort hantiert ein Zahnarzt im Mini-Rock mit einem Bohrer.
    Hier, auf der Treppe zum Keller: ich. Hier, neben mir: Asija. Asijas lange Fingernägel.

    Dort füttert eine Frau in Küchenschürze einen Hund mit Miniaturen einer Frau in Küchenschürze.
    Dort saugt eine noch unbehauene Figur, hier sagt Asija: deine Bilder sind gemein, und dreht sich das Haar auf den Finger. Ich bin Asija, sagt sie. Sie haben Mama und Papa mitgenommen. Mein Name hat eine Bedeutung. Einmal kam ein Mann in unser Dorf, um alle Fragen zu beantworten. Er war spindeldürr, hatte eine Glatze und nur noch ein Ohr, in das man schreien musste, damit er die Frage verstand. Jeder im Dorf durfte dem Einohrigen eine Frage stellen und schenkte ihm für die Antwort einen Karton mit zehn Küken oder eine Flasche Schnaps oder einen Briefumschlag. Der Einohrige hatte ein einohriges Pferd, das einen Wagen zog. Auf dem Wagen stapelten sich Geschenke. Ich zeigte dem Mann ein Holzscheit. In die Rinde hatte ich meinen Namen eingeritzt. Was bedeutet Asija?, schrie ich in das Ohr. Keine Ahnung, schrie der Einohrige zurück, warum fragst du? Er roch so nach Most und Pferd, dass ich mein Gesicht in unserem Bach waschen musste. Ein Jahr später reihten die Soldaten alle aus dem Dorf auf. Onkel Ibrahim und ich konnten uns im Wald verstecken. Ein Soldat las die Namen aus unseren Pässen laut vor. Ein anderer bekreuzigte sich und goss Benzin über unsere Haustür.
    Dort putzt sich ein Herr mit Monokel die Zähne.
    Dort rasiert sich eine Frau mit Zylinderhut die Beine.
    Spielregel: Treppenaufgang – Erinnerung. Ich stehe auf und schalte das Aggregat aus. Das Licht erlischt. Liste: Stille. Stille der dunklen Sekunde mit Asija im Treppenhaus, bevor wir auf den Lichtschalter drücken. Stille, die ihre Zähne fletscht. Mein Vater. Stille nach Kamenkos Schuss. Francesco und die Veranda-Stille. Meine stille Nena Fatima. Stille meiner letzten zehn Jahre.
     
    Hinter dem Kleiderschrank in Omas Schlafzimmer liegt noch der Karton. Ich lege die Bilder auf dem Boden aus. Ich lege die Bilder auf der Kommode aus, ich lege die Bilder auf den Betten
aus. Ich lege die Bilder auf das Fensterbrett, auf den Tisch und unter den Tisch. Neunundneunzig Bilder des Unfertigen, auf der Rückseite beschriftet, ich werde jedes einzelne zu Ende malen. Ein Bild von der unfertigen Kindheit ist nicht darunter. Ich beginne mit dem Falken im Sturzflug, den ich an dem Tag in der Lichtlagune gemalt hatte, noch bin ich der

Chefgenosse des Unfertigen
    Falke im Sturzflug.
     
    Unser Yugo ohne Auspuff auf der Straße nach Veletovo.
     
    Jugoslawien mit Slowenien und Kroatien.
     
    Nena Fatimas Haar, ungeflochten.
     
    Die Drina ohne die neue, hässliche Brücke.
     
    Die junge Drina ohne Staudamm.
     
    Kürbis, unaufgeschnitten.
     
    Tito im T-Shirt.
     
    Tito ungekämmt.
     
    Tito ohne Schussloch als Auge.
     
    Fenster, offen in einen sonnigen Tag.
     
    Vaters »Porträt von B. als Virtuosin zärtlicher Geigen« ohne die blöden Geigen.
     
    Opa Rafik ohne Cognacflasche.
     
    Barfuß sein.
     
    Menschenschatten unter einer Laterne ohne Mensch.
     
    Kerze ohne Docht.
     
    Freitagnachmittag, Samstag und Sonntag ohne Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Freitagmorgen.
     
    Edins Kreidetor auf der Schulfassade ohne Hausmeister.

     
    Eidechse mit Schwanz.
     
    Gerade Nase von Vukoje Wurm, meinem Klassenkameraden, der vier Mal versuchte, mir meine zu brechen, aber irgendetwas kam immer dazwischen. Gemalt von Vukoje selbst in einem Moment ungeahnter Sanftmut.
     
    Van Gogh,
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