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Wie der Soldat das Grammofon repariert

Wie der Soldat das Grammofon repariert

Titel: Wie der Soldat das Grammofon repariert
Autoren: Sasa Stanisic
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heute Abend die Erinnerung nicht mehr vorhatte.

    Hier, an einem der Sperrholzplattentische, rauchte Onkel Bora eine nach der anderen und erzählte, dass er tags zuvor mit dem Rauchen aufgehört hätte, Pionierehrenwort! Die Sperrholztische wurden gebastelt, damit wir besser essen und Domino spielen können. Ich lernte das Wort »provisorisch«, und zwei Männer trugen einen Herd in den Keller. Der Herd ist jetzt nicht mehr hier, aber dort mäht ein Mann in Flip-Flops den Rasen, und mein Onkel schwor, es mit seinem Schwur ernst gemeint zu haben, Sonntage seien die besten Tage, um etwas aufzugeben, und Montage die besten, um etwas zu beginnen. Kurz vor Mitternacht hätte er schnell seine letzte Schachtel ausgeraucht und dann begonnen, weltberühmte Bauwerke mit Streichhölzern nachzubauen: den Eiffelturm, die ägyptischen Pyramiden, die Berliner Mauer. Als am Morgen die ersten Engen, Polierten in Višegrad einschlugen, traf eine davon das Dach von Onkel Boras Haus. Tante Taifun ließ vor Schreck das Frühstückstablett fallen, die beiden Kaffeetassen verloren ihre Henkel, und mein Onkel lobte den Kleber in höchsten Tönen: die Berliner Mauer hat gehalten, die Dachziegel und das Porzellan nicht.
     
    Seit Bora, Taifun und ihre Ema in Omas Keller gekommen sind, raucht Onkel Bora wieder und beschreibt, wie es geklungen hat und was alles gezittert hat, als die Granate die Ziegel von seinem Dach abblätterte. Auf den Knien balanciert er einen kleinen, quadratischen Klotz Streichhölzer und zeigt jedes Mal darauf, wenn er »Berliner Mauer« sagt.
    Ihm gegenüber sitzt Tante Taifun und stillt ihre Ema. Ich höre meine Mutter zu Oma Katarina sagen: Gordana ist ganz schön blass.
    Das wühlt mich auf. Nicht weil Tante Taifun blass ist oder so ungewohnt ruhig, sondern weil meine Mutter sie bei ihrem richtigen Namen nennt. Ich male eine Kamillenblume ohne Stängel und schenke sie meiner Tante, weil ich weiß, dass Kamillentee beruhigt. Ema greift nach dem Papier. Ich kann ihre Hand ganz in meine Faust schließen.

    Nach dem fünfzigsten Einschlag höre ich auf zu zählen – zähle lieber die jungen Katzen: in der äußersten Ecke des Kellers leckt eine graue Katzenmutter ihre vier grauen Jungen ab. Onkel Bora hat die Geschichte mit den Kaffeetassen, dem Dach und dem Kleber jedem Anwesenden zwei Mal erzählt, das macht circa sechzig Mal das Wort »Henkel«, circa zwanzig Mal den Satz: Die DDR war eh ein Witz, und genau drei Mal die Frage: Mein Gott, was ist hier los?
    Der Keller ist groß genug, von Ecke zu Ecke zu Ecke zu Ecke dreihundert Schritte. Niemand schickt uns zum Spielen, obwohl alles auf eine Weise geflüstert wird, als dürften wir es nicht hören. Wir beginnen, uns zu langweilen, Marija kann mit verbundenen Augen niemanden finden und irrt tastend durch die Korridore. Nešo ist da, Edin ist da. Wenn ich mit Marija rede, sehe ich immer in ihr Haar. Marija hat Locken wie sonst niemand, den ich kenne. Auch auf ihre Grübchen muss ich sehen, weil sie sich als kleine Strudel in ihre Wangen drehen, wenn sie lacht. Auf ihre Augen, weil sie gelb und grün sind. Im Keller spielt Marija die meiste Zeit allein unter den Begonien im Lüftungsschacht, aus Plastilin bastelt sie Kännchen und Löffel und einen Tisch und trinkt aus Plastilintassen unsichtbaren Kaffee mit unsichtbaren Gästen.
    Immer mehr Leute, die nicht in dem Gebäude leben, strömen in den Keller. Ich freue mich am meisten über Walross und Zoran. Auch Milica, der Marienkäfer, stöckelt zu uns hinab. Walross hat eine Tüte voller Früchte mitgebracht. In den Bergen geht es ganz schön ab, sagt er, das grüne Haus mit dem merkwürdigem Dach, in dem die Japaner verschwunden sind, hätte es fast erwischt, und den Gemüseladen an der Ecke. Ich habe Geld auf dem Tresen gelassen, ehrlich. Wir brauchen Vitamine. Er bricht einen Apfel entzwei und gibt Zoran eine Hälfte.
    Saugen Mücken eigentlich die Vitamine aus unserem Blut?
    Milica in ihrem Rot-Schwarz setzt sich neben Tante Taifun. Schön, sagt sie zu Emas Haarflaum und in die Runde: ich hoffe, es ist in Ordnung, wenn wir bleiben, bis das vorbei ist.
    Ich habe längst begonnen, Milica zu mögen.
    Folgende Fragen stelle ich nicht:
    Wer schießt?
    Wer schießt auf wen?
    Warum?
    Wann ist das vorbei?
    Werden Dächer in Višegrad wie die Dächer in Osijek brennen?
    Wird die Fußballsaison weitergehen?
    Wird die Schule weitergehen?
    Wer verteidigt uns?
    Wann ist das vorbei?
    Was, wenn eine Granate Opa Slavkos Grab
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