Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht
Autoren: Brigitte Melzer
Vom Netzwerk:
seinem besten Freund erklären sollte, dass sein Sohn beinahe für unseren Tod mitverantwortlich gewesen wäre. »D er Rat wird ihn aus dem Rang eines Jägers entheben.«
    »K ann er dann kein Unheil mehr anrichten?« Würden sie ihn damit nicht geradewegs in die Arme der Hüter der alten Welt treiben? Wir mochten einen Teil dieser Fanatiker bezwungen haben, doch da draußen waren noch mehr von ihnen. Für eine Weile würden sie sich vielleicht still verhalten und ihre Wunden lecken, nach der Niederlage, die wir ihnen beigebracht hatten. Aber früher oder später würden sie ihren Kampf wieder aufnehmen. Und Derek wäre ein starker Verbündeter, der über eine Menge wertvolles Wissen verfügte.
    »N icht, wenn sie ihm seine Erinnerung nehmen.«
    »S o etwas geht?«
    Dad rührte gedankenverloren in der Pfanne und verwandelte unsere Spiegeleier in Rühreier. »E s gibt Menschen, die über die Fähigkeit verfügen, Erinnerungen zu manipulieren und vergessen zu machen.«
    »W ie das Blitzdings bei den Men in Black?«
    »S o ähnlich, nur dass sie dazu kein Gerät brauchen. Eine Berührung genügt. Ihre Gabe ist es, Erinnerungen und Wissen zu löschen oder bei Bedarf durch andere zu ersetzen. Sie sind einer der Gründe, warum heute so wenige Menschen über Magie oder das Jenseits Bescheid wissen. Wann immer sie Wind davon bekommen, dass jemand Dinge gesehen hat, die nicht für seine Augen bestimmt waren, tilgen sie diese Erinnerung und ersetzen sie durch eine andere, harmlosere.«
    »D erek wird also sein Wissen über das Jenseits verlieren?«
    Dad nickte. »D amit wird er auch seinen Vater verlieren, denn man wird ihm auch die Erinnerung an Greg nehmen. Er darf nicht mehr mit seinem Vater in Kontakt kommen, andernfalls besteht die Gefahr, dass er… dass sein Vergessen löchrig wird und er sich zu erinnern beginnt.«
    Die Strafe, die eigentlich für Derek gedacht war, würde seinen Vater härter treffen als ihn selbst. Ich wusste, dass ich wütend auf Derek sein sollte, aber vielleicht war es so für ihn am besten. Er würde von der qualvollen Erinnerung an den Tod seiner Mutter befreit sein. Eine Erinnerung, die ihn erst dazu gebracht hatte, zu tun, was er getan hatte. Er konnte irgendwo ein neues Leben anfangen. Vielleicht sogar glücklich werden. Das war beinahe mehr, als er verdient hatte.
    »E igentlich kann er einem leidtun«, sagte Dad. »D ie Hüter haben ihn nur benutzt. Sie haben ihm gesagt, dass es keine Toten geben würde, dass nur ein paar Tropfen Blut nötig wären. Als er dann die Wahrheit erfuhr, wollte er einen Rückzieher machen, hat sich aber überzeugen lassen, dass es der einzige Weg ist, zu verhindern, dass noch mehr Menschen dem Jenseits zum Opfer fallen. Ein einziges Leben, um Unzählige zu retten. Irgendwann in der Höhle muss ihm wohl klar geworden sein, dass selbst dieses eine Leben eines zu viel ist.«
    Dad nahm zwei Teller aus dem Schrank, verteilte das ehemals Spiegel-, jetzt Rührei darauf, legte den fertigen Toast dazu und stellte mir einen der Teller hin, ehe er sich zu mir setzte. »W o ist der Kobold?«
    Warum Dad ihn oben nicht gesehen hatte, war mir ein Rätsel. War sein Wächterblut etwa schwächer geworden? Vermutlich zog Drizzle es vor, nicht länger von ihm gesehen zu werden. Aber wie er das anstellte, musste ich ihn bei Gelegenheit fragen. Ich zuckte die Schultern. »V ielleicht noch in der Höhle. Oder längst wer-weiß-wo.«
    Ich wich Dads Blick nicht aus, als er mich musterte. Schließlich nickte er. »I st auch egal. Kobolde sind zwar lästig, aber nicht gefährlich. Wenn hier irgendwo einer herumläuft– wen interessiert das schon?« Laut genug, dass es durchs ganze Haus zu hören sein musste, fügte er hinzu: »S olange er meinen Whisky und meine Zigarren in Ruhe lässt.«
    »E ben. Wen interessiert das schon.« Ich grinste erleichtert und Dad erwiderte mein Grinsen. Meine Fröhlichkeit verflog jedoch schlagartig, als mir bewusst wurde, dass es noch ein Thema gab, das ich bisher sorgfältig vermieden hatte. »W as wird jetzt aus Cale, Dad?«
    »I ch weiß es noch nicht.«
    Das war nicht die Antwort, die ich erhofft hatte, aber auch nicht die, vor der ich mich gefürchtet hatte. Für die nächsten Stunden würde ich wohl damit leben können.
    Eine Weile aßen wir schweigend. Ich hatte nicht gemerkt, wie hungrig ich war, bis ich mir den ersten Bissen in den Mund schob. Danach war ich erst wieder in der Lage, etwas zu sagen, als mein Teller leer war. Die Frage, die mir als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher