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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht
Autoren: Brigitte Melzer
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dachten, oder ob sie Trauer empfinden konnten. Drizzle wirkte nicht sonderlich traurig. Eher mürrisch. Immer wieder stieß er gegen Cales Finger, als wolle er ihn dazu bringen, aufzustehen. Doch Cale schaffte es kaum noch, den Arm zu bewegen. Er ballte die Klauen zu einer Faust, die er nur mit Mühe heben konnte.
    Statt nach einem Ausweg zu suchen, hatte er den Augenblick genutzt, in dem er gespürt hatte, dass sein Auftraggeber nach seinem Leben griff, um den letzten Hüter auszuschalten. Dabei hätte er mich ebenso gut packen und durch das Tor ins Jenseits werfen können, statt sich in einen Kampf mit den Hütern zu stürzen. Damit wäre sein Auftrag erfüllt gewesen und sein Leben gerettet. Er hatte sich dagegen entschieden. Gegen sich und für mich.
    »B itte, Cale«, schluchzte ich. »T u das nicht! Stirb jetzt nicht!«
    Er öffnete den Mund, doch es wollten keine Worte mehr herausfinden. Sein Atem ging keuchend und stoßweise und schien mit jedem weiteren Atemzug flacher zu werden. Er stieß mit der Faust gegen meinen Arm, als wolle er mir etwas sagen. Wenn dem so war, verstand ich es nicht. Dann schloss er die Augen. Sein Arm fiel kraftlos herab. Es war, als sei die Verbindung zwischen uns abgebrochen. In mir spürte ich nur noch eine große Leere.
    »N ein«, flüsterte ich. »B itte…«
    Drizzle zupfte an meiner Hand, ich wollte ihn wegschieben, doch er krallte sich an meinem Finger fest. »W ann kapierst du es endlich, du dummes Ding?«
    Blinzelnd und immer noch blind vor Tränen sah ich ihn an.
    »S eine Hand! Sieh in seine Hand!«
    Er klang so drängend, dass ich nicht anders konnte, als seiner Aufforderung nachzukommen. Ich griff nach Cales Hand, derjenigen, die er zur Faust geballt hatte. Als ich die Klauen auseinanderzog, setzte mein Herz einen Schlag aus.
    In seiner Handfläche lag ein kleiner roter Steinsplitter.
    Ich sah Drizzle an. »I st das der…«
    »M ach schon! Setz ihn ein. Bevor es wirklich zu spät ist.«
    Der Splitter fühlte sich kalt an. Tot. Vorsichtig nahm ich ihn aus Cales Hand. Ich zog die Überreste seines Shirts beiseite und legte die Wunde frei, aus der er sich buchstäblich das Herz gerissen hatte. Der Splitter war viel zu klein. Wie sollte er halten? Er würde herausfallen und gar nichts würde passieren.
    »B eeil dich!«
    Meine Hand zitterte, als ich den Steinsplitter in die tiefe Wunde legen wollte. Um ein Haar wäre er mir entglitten. Ich umfasste ihn fester und platzierte ihn vorsichtig in der Mitte. Atemlos beobachtete ich, wie der Splitter in die Haut einsank und sich mit Fleisch und Gewebe verband. Das Licht in seinem Inneren begann zu pulsieren. Anfangs langsam und unstet, dann immer stärker und kräftiger. Als ich ihn vorsichtig berührte, fühlte er sich nicht mehr kalt wie Stein an, sondern warm und voller Leben.
    Cale schlug die Augen auf. Ein schwaches Lächeln offenbarte den Blick auf seine Reißzähne. »I ch würde mir gerne mit dir den Mond ansehen, Prinzessin.«

37
    Cale starb nicht. Weder in dieser Nacht noch in den Tagen darauf. Er war schwach und kaum imstande, die Augen länger als zwei Minuten am Stück offen zu halten, aber er würde leben.
    Wir brachten ihn zum Cottage und in Tricks Bett. Während ich mich um seine übrigen Wunden kümmerte, die sich zu meiner Erleichterung als weniger ernsthaft herausstellten, als ich befürchtet hatte, rief Dad den Rat am Tor zusammen. Er blieb die ganze Nacht und beinahe den kompletten nächsten Tag fort. Nicht zu wissen, wie die Sache verlief und ob er vielleicht noch einmal angegriffen wurde, war die Hölle. Cale versuchte mich zu beruhigen, was ihm auch gelang, solange er mit mir sprach. Die meiste Zeit jedoch befand er sich in einem Zustand zwischen Schlaf und Bewusstlosigkeit, der mir nur allzu viel Raum für meine finsteren Fantasien und Ängste ließ. Immer wieder sah ich die schrecklichen Szenen aus der Höhle vor mir. Cale hatte einen Menschen getötet. Auch wenn er damit sein und mein Leben gerettet hatte, war es furchtbar gewesen. Aber der Hüter hätte ihn und mich getötet, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er gekonnt hätte. Das zu begreifen, machte es leichter. Trotzdem hätte es geholfen, mit jemandem reden zu können, der über Jenseitsdinge Bescheid wusste.
    Drizzle war mir auch keine Hilfe. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es Cale gut ging, hatte er sich mit einer Schüssel Chips und einem Schnapsglas voll Whisky auf das Fensterbrett verzogen und sich die Kante gegeben, bis er
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