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Werwelt 02 - Der Gefangene

Werwelt 02 - Der Gefangene

Titel: Werwelt 02 - Der Gefangene
Autoren: Robert Stallman
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lauschte der Frauenstimme, die gedämpft aus einem der oberen Fenster herunterklang.

    ›Als ich im Zirkus war,
    war’n viele Tiere da
    im Mondenschein, da saß das Schwein
    und kämmt sein Borstenhaar.
    Der Aff, der schlägt ein Rad
    und neckt den Leopard,
    der mag das nicht und schnappt den Wicht
    da hat der Aff den Salat, Salat, Salat.‹

    Er konnte das Lachen des kleinen Mädchens hören, als die Frau ihm vom schlimmen Schicksal des Affen sang. Sie hatte eine wunderschöne Stimme – Renee, die Schwester der goldenhaarigen Vaire, für die der kleine Robert geschwärmt hatte, als er auf dem Hof lebte. Doch das war nicht seine Erinnerung, und einen Moment lang war er verwirrt von dem Eindringen der früheren Zeit in seine Gedanken. Nicht ihm gehörte diese Erinnerung, sondern jener Macht, die in seinem Inneren verborgen lag und noch nicht ganz in ihre gewohnte stumme Reglosigkeit versunken war. Er ging den schmalen Weg hinauf zu dem weißen Holzhaus mit dem kleinen Spalier rund um die Eingangstür.
    Das Licht auf der Veranda flammte auf, nachdem er geläutet hatte. Die Tür öffnete sich, ein massiger Mann in Hemdsärmeln, Unwillen auf dem groben Gesicht, trat ihm entgegen und versperrte ihm den Weg. Er sah aus wie ein aufgestörter Palastwächter, der keine Zeit gehabt hatte, seine Uniformjacke überzuziehen. Unter dichten dunklen Brauen hervor, die über der Nase zusammenstießen, blickte er mit düsterer Miene auf den Fremden.
    »Hallo! Sind Sie Mr. Hegel?«
    »Ja. Aber wenn Sie was verkaufen wollen, brauchen sie gar nicht erst –«
    »Nein.« Der Fremde lachte entwaffnend. »Ich bin auf der Suche nach Auskünften über meinen verschwundenen Neffen.« Er machte eine Pause, damit der Mann sich auf die Situation einstellen konnte, dann fuhr er fort. »Vielleicht erinnern Sie sich an ihn – ein sechsjähriger Junge mit braunem Haar und sehr mager. Er heißt Robert Lee Burney.«
    »Robert? Ja, klar, der Junge hat bei meiner Schwägerin gelebt, aber er ist da vor fast einem Jahr weggelaufen.« Der bullige Mann zog die Tür ein Stück weiter auf und trat einen Schritt zurück, als hätte man ihm eine Beschuldigung ins Gesicht geschleudert.
    »Richtig. Den suche ich. Der Sheriff von Cassius County meinte, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«
    »Renee!« rief Hegel über seine Schulter nach rückwärts, ohne den Blick vom Gesicht des Fremden zu wenden. Als er die Schritte seiner Frau hörte, schien er plötzlich selbstsicherer, als hätte er seinen Ort in der Welt wiedergefunden. »Renee, der Mann hier möchte eine Auskunft über den kleinen Robert.« Nochmals trat er zurück und sagte mit einer Höflichkeit, die unecht klang: »Möchten Sie nicht hereinkommen, Mister – äh –«
    »Golden, Barry Golden. Ja, danke sehr.« Barry trat ins Haus und reichte Hegel seinen Hut, den dieser mit Sorgfalt auf den Tisch im Vestibül legte. »Und Sie sind Renee«, sagte Barry, wohlwissend, daß es ein wenig dreist war, sie so anzusprechen.
    Sie hatte tiefschwarzes, glänzendes Haar. Der Kontrast zum reinen Weiß ihrer Haut war erstaunlich. Sie trug einen Anzug, den er zunächst für eine Art Pyjama hielt, später jedoch sah er, daß es ein Hausanzug nach orientalischem Muster war, mit weiter Hose und einem engsitzenden Kasack, der mit einem großen Drachen bestickt war. Sie sah sehr schön darin aus. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck unbewegter Stille, so als hätten sich stärkere Emotionen, die sie vielleicht besaß, in eine andere Welt zurückgezogen. Doch als sie sprach, blickten ihre dunklen Augen direkt in die seinen, und er sah und spürte dort eine leidenschaftliche Verzweiflung.
    »Bitte kommen Sie herein, Mr. Golden«, sagte sie und streckte ihm die Hand entgegen. »Selbstverständlich helfen wir Ihnen weiter, wenn wir können.«
    Sein Herz hämmerte ihm hart gegen die Rippen, als er ihre Hand nahm und sie in der seinen hielt, als wäre sie ein Geschenk.
    »Mrs. Hegel, es tut mir leid, daß ich Sie und Ihre Familie belästigen muß, aber ich möchte gewiß sein, daß ich wirklich alles getan habe, was in meiner Macht stand, um das Rätsel aufzuklären. Ich hoffe, es macht Ihnen nicht allzuviel aus.«
    »Aber keineswegs«, erwiderte sie mit einem Blick auf ihre Hand, die Barry immer noch festhielt. Leichte Röte schoß ihr ins Gesicht.
    Hegel schob seine massige Gestalt zwischen die beiden und drängte sie in das kleine Wohnzimmer.
    »Wir haben Robert eigentlich gar nicht gekannt«, bemerkte Renee, als sie
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