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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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Mein Tagtraum hatte sich so weit verselbstständigt, dass ich zunächst gar nicht bemerkt hatte, wie mein Körper ihm willenlos gefolgt war. Der Lufthauch hatte mich glücklicherweise darauf aufmerksam gemacht.
    Ohne ihn wäre ich vermutlich kurz darauf auf dem Beton aufgeschlagen, und meine federleichten Flüge hätten ein tragisches Ende genommen. Vorsichtig stieg ich von der Fensterbank, mir zitterten noch die Knie, als ich wieder auf meinem Bett saß. Der Blick nach unten hatte mir einen großen Schrecken eingejagt. Es ist kurios: Ich bin absolut nicht schwindelfrei, jedenfalls solange ich auf meinen Beinen stehe. Denen vertraue ich viel weniger als meinen Flügeln. Noch heute kann ich mich auf keinen Turm stellen oder von einer Bergkante in die Tiefe blicken, ohne es sofort mit der Angst zu tun zu bekommen. Wenn ich mit dem Segelflugzeug
oder Gleitschirm unterwegs bin, dann kann es mir gar nicht hoch genug hinausgehen.
    Je älter ich wurde, desto weniger Gelegenheit hatte meine Fantasie, sich in die Luft zu schwingen. Auch ich hatte meinen Teil zu den Erträgen unserer Gärtnerei beizutragen, meine Großmutter musste keine großen Worte finden, um mich zur Arbeit zu bewegen. Ich traute mich genauso wenig wie mein Großvater und meine Mutter, ihr zu widersprechen. Einfache Tätigkeiten wie Tomatenpflücken oder Gurkenabschneiden konnte ich schon übernehmen. Eine riskante Tätigkeit hingegen war das Ernten der Erbsenschoten, denn die habe ich geliebt. Meine Quote als Erbenschäler war deshalb miserabel: Ich habe zwei, drei Schoten geerntet und eine geöffnet, um ihren Inhalt sofort in meinem Mund verschwinden zu lassen. Erbsen blieben das einzige Gemüse, bei dem ich eine Art Sonderrecht hatte. Als meine Großeltern merkten, wie gut mir die schmeckten, entschieden sie, die dann eben nicht zu verkaufen. Und Erbsen esse ich heute noch gern, genauso wie Tomaten.
    Alles andere Grünzeug kann ich dagegen nicht ausstehen. Denn es war bei uns üblich, dass alles, was vom Markt übrig blieb oder nicht die notwendige Qualität hatte, bei uns auf den Tisch kam. Also konnte es passieren, dass es eine Woche lang jede denkbare Variation von grünem Salat gab, mit Kartoffeln, ohne Kartoffeln. Mit mehr Dressing, mit weniger Dressing. Und dazu vielleicht noch Semmelknödel. Und wenn der Kohlrabi nicht verkauft wurde, wurde er als Suppe
oder mit Bröseln serviert. Irgendwann wuchs mir das Gemüse zu den Ohren hinaus. Umso mehr Mühe gab ich mir deshalb, es an den Markttagen zu verkaufen.
    Ein paar Jahre nach dem Start meiner Karriere als Gemüseverkäufer begann meine Laufbahn als Trainer. Zu den wenigen echten Freunden, die ich in meiner Kindheit hatte, gehörte Klaus. Ein Junge, der wie ich keine große Gruppe um sich brauchte, um glücklich zu sein. Wir waren zwei Menschen, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, gern allein zu sein. Manchmal waren wir beim Alleinsein eben zu zweit. Mit ihm machte ich gewissermaßen meine erste Erfahrung als Coach, ich war vielleicht acht Jahre alt. Klaus war im Gegensatz zu mir recht sportlich und fuhr gern Rollschuh. Ich dagegen machte mir wenig aus körperlicher Ertüchtigung, meine Sportarten waren Tomaten- und Gurkenpflücken in der Gärtnerei meiner Großeltern, wenn ich musste, und Hühnerfangen im Garten unseres Hauses, wenn ich wollte.
    Eine Lieblingsbeschäftigung von uns beiden war eine Art Mutprobe auf acht Rädchen: Direkt vor dem Wohnhaus von Klaus’ Eltern verlief der Gehweg steil bergab und mündete am Ende in eine Neunzig-Grad-Kurve. Klaus wollte herausfinden, aus welcher maximalen Höhe er auf seinen Rollschuhen starten konnte, um unten noch heil um die Kurve zu kommen. Meine Aufgabe war die des Beobachters, denn ich sagte mir: Nicht böse sein, aber Rollschuhlaufen – das ist nichts für mich. Und mir am Ende die Haxen brechen noch viel
weniger. Außerdem bemerkte ich schon damals, dass es mir mehr Spaß machte, einen anderen auf seinem Weg anzuleiten. Und das ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen: Ich beobachtete Klaus auf seinen waghalsigen Abfahrten. Ich achtete darauf, wie es ihm bei dem, was er sich vorgenommen hatte, erging, und ob er sich zu viel oder zu wenig zugetraut hatte. Damit haben wir viele Nachmittage zusammen verbracht.
    Eines Tages hatte ich etwas daheim vergessen, und weil ich nur meinen Tretroller dabeihatte, nahm Klaus kurzerhand sein Fahrrad und fuhr los. Bald darauf hörte ich einen Knall, und mir war sofort klar, dass Klaus von einem Auto
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