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Wer nichts hat, kann alles geben

Wer nichts hat, kann alles geben

Titel: Wer nichts hat, kann alles geben
Autoren: Karl Rabeder
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angefahren worden war. Wie ich später erfuhr, war er auf die Straße gefahren, ohne auf den Verkehr zu achten. So hatte er das Auto schlicht übersehen, das in ihn hineinfuhr. Normalerweise hatte er ja mich, der aufpasste, dass die Bahn frei war. Der Anblick des stehenden Autos und der danebenliegenden Gestalt versetzte mich in eine solche Panik, dass ich davonrannte.
    Ich war mir sicher, Klaus würde diesen Nachmittag nicht überleben. Für meine Begriffe hatte ich sein Leben auf dem Gewissen, ich hatte ihn umgebracht. Erst nach vielen Stunden war ich in der Lage, nach Hause zurückzukehren. Dort erfuhr ich, dass Klaus ins Krankenhaus gebracht worden war. Diagnose: nichts weiter als ein paar kleine Kratzer, die schnell behandelt waren. Zwei Stunden später durfte er das Krankenhaus schon wieder verlassen. Trotzdem hatte ich an meiner Panik und der Reaktion auf diesen Unfall noch
lange zu knabbern. Letztlich zerbrach auch unsere Freundschaft daran.
    Was dagegen bis zum heutigen Tag überdauert hat, ist meine Lust, anderen dabei zu helfen, ihre Potenziale zu erkennen und sie zu wecken. Klaus war genauso ein guter Klient wie ich ein guter Coach: Er hatte den nötigen Mut und die Fähigkeit, sich auf Rollschuhen den Berg hinunterzustürzen. Ich sah, wie er sich an seine Grenzen herantastete, und half ihm dabei, sie auszureizen, ohne dabei aus der Kurve zu fliegen.
    Ich bin überzeugt: Wie Klaus hat jeder Mensch alles Notwendige bereits in sich, um zu schaffen, was er wirklich will. Die Fähigkeiten und Anlagen, die er dafür braucht, liegen aber womöglich so tief in ihm verborgen, dass er sich ihrer gar nicht bewusst ist. Ein guter Coach ist jemand, der wie ein Geburtshelfer agiert: Er fördert das zutage, was jemand in sich trägt, und hilft dabei, es zur Welt zu bringen. Was er dagegen nicht kann, ist, jemandem etwas einzureden zu versuchen, was der andere gar nicht in sich trägt. Nicht die fehlenden Fähigkeiten sind das Problem, wenn etwas dauerhaft nicht gelingen mag, sondern der falsche Wille.

Die Reifung
    W odurch lernt der Mensch? Indem er immer wieder erzählt bekommt, was das Richtige für ihn sei, wie er sich in dieser Situation zu verhalten und was er in jener besser zu unterlassen habe? Oder indem er etwas vorgelebt bekommt, was er dann automatisch verinnerlicht? Für mich ist die Antwort eindeutig: Ich glaube, dass Menschen nicht so sehr von dem geprägt werden, was sie hören, sondern von dem, was sie vorgelebt bekommen. Denn das wird für sie zur Realität.
    Ich kann mich nicht an viele Gespräche aus meiner Kindheit und Jugend erinnern. Umso deutlicher aber blieb in mir haften, dass es ganz normal war, jede freie Minute mit Arbeit zu verbringen. Das habe ich sowohl bei meinen Großeltern als auch bei meiner Mutter erlebt: Wenn sie nachmittags um vier Uhr von ihrer Dreivierteltags-Beschäftigung nach Hause kam, war klar, dass sie nach dem Umziehen als Nächstes in den Garten ging und dort weiterarbeitete, bis es dunkel wurde.
    Meine Mutter war Sekretärin und Tourorganisatorin in einem Großhandel für Tischlereifachbedarf, ausgestattet
mit einer sehr guten Organisationsgabe und der Fähigkeit, Menschen zu führen. Sie hat die Auslieferung mit fünfzehn Fahrern und einigen Lagermitarbeitern fast im Alleingang geschmissen und war eindeutig die Herrin im Haus, da gab es keine Widerrede. Und wenn, ist sie so dazwischengefahren, dass der Staub durch die Luft wirbelte.
    Zu Hause aber war sie ein ganz anderer Mensch. Sie war eine wahrhaft selbstlose Frau, die ihre ganze Energie darauf verwandte, dass es anderen gutging, ganz besonders mir. Sie opferte über fünfzehn Jahre ihres Lebens einzig dafür, ihren Sohn wunschlos glücklich zu machen. Abends und an den Wochenenden ging sie kaum noch aus, abgesehen von einer relativ kurzen Beziehung hatte sie nach meinem Vater keinen Mann mehr. Ich war der einzige wirklich wichtige Lebensinhalt für sie. Sie hatte nur beste Absichten, als sie mein Leben in den Mittelpunkt ihres Daseins stellte. Sie wollte mir eine Umgebung schaffen, in der es mir an nichts mangelte und die mir die bestmöglichen Entfaltungsmöglichkeiten bot.
    Ihre Eltern, vor allem ihre eigene Mutter, hatten bei ihrer Erziehung noch eine andere Strategie verfolgt, eine, die ganz Ausdruck der damaligen Zeit war: Kinder mussten gehorchen, sie waren umstellt von Verboten und hatten dem zu folgen, was die Erwachsenen ihnen befahlen. Meine Mutter dagegen wollte mir eine schier unbegrenzte Freiheit
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