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Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Titel: Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen
Autoren: Julia Baehr , Christian Boehm
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Hürde Koffer und stolpere in den Wassergraben.
    Während das warme Wasser auf mich herunterprasselt, rechne ich: Wenn ich das Frühstück ausfallen lasse und meine Haare nicht föhne, erwische ich vielleicht die U-Bahn um 8.45 Uhr und komme noch pünktlich zur Arbeit. Aber nur, wenn ich mir jetzt sofort überlege, was ich gleich aus dem Schrank zerre und anziehe.
    Während ich die fast leere Shampooflasche malträtiere, entscheide ich mich schon mal für das, was ich eigentlich immer zur Arbeit anziehe: eine schwarze Hose, eine weiße Bluse und einen Pullover in irgendeiner Knallfarbe, zu der Schuhe oder Handtasche passen. Es mag feige sein, aber diese Kombination ist in meiner Branche die aufwandsärmste Möglichkeit, anständig auszusehen. Wenn Menschen auf Partys mich fragen, was genau ich in dieser Kosmetikfirma mache, bin ich immer etwas hilflos. Meine mehrteilige englische Berufsbezeichnung kann man niemandem zumuten. Mädchen für alles wäre wahrscheinlich eine treffende Beschreibung meiner Tätigkeit. Ich spreche mich mit anderen Abteilungen ab, plane neue Produkte und höre mir unglaublich langweilige Vorträge von Marketingberatern an. Ständig legt mir jemand irgendein Farbmuster hin, über das ich entscheiden soll, aber bitte mit absolut stichhaltiger Begründung, falls jemand in einem der tausend Meetings anderer Meinung sein sollte. Hat jemals jemand eine stichhaltige Begründung dafür ersonnen, warum eine Lippenstifthülle magenta und nicht pink zu sein hat? Mir jedenfalls ist bisher keine eingefallen, weswegen ich an solchen Stellen irgendetwas von »Corporate Colours der Konkurrenz« labere und so lange rede, bis jedweder Widerspruch im Keim erstickt ist. Das habe ich mir von meinem Chef abgeschaut. Es wirkt.
    In Apfelgrün und schon halb durchnässt von meinen tropfenden Haaren steige ich in die U-Bahn. Pünktlich! Meinem Chef wäre es egal, ob ich zehn Minuten früher oder später anfange, aber ich fürchte mich vor meiner Assistentin. Elaine ist Mitte vierzig, trägt eine Lesebrille, über deren Rand sie mich immer strafend anschaut, und scheint der Meinung zu sein, sie könnte meinen Job viel besser machen als ich, wenn sie nur die Chance dazu bekäme. Wahrscheinlich hat sie recht. Jedenfalls sitzt sie schon an ihrem Platz, als ich um 9.03 Uhr ankomme. Meine quietschgrüne Handtasche bedenkt sie mit einem verächtlichen Kopfschütteln. Sie selbst trägt immer irgendwelche braun-beigen Ledermonster am Arm, auf denen entweder groß oder hundertfach der Markenname steht. Ihr Mann schenkt sie ihr zu hohen Feiertagen. Er besitzt ein Autohaus im Umland, und manchmal stelle ich mir vor, wie sie abends dorthin nach Hause kommt, orthopädische Schuhe anzieht und vor dem Fernseher in der Nase bohrt. Dann fühle ich mich immer für kurze Zeit überlegen.
    Um Elaines Missbilligung zu entgehen, schließe ich schnell meine Bürotür hinter mir. Durch das Holz hindurch spüre ich, wie sie Nadeln in meinen Rücken schießt. Allmählich werde ich paranoid. Ich brauche dringend Urlaub. Mit einem Stöhnen lasse ich mich auf meinen roten Schreibtischstuhl fallen und lege die Füße auf einen kleinen gelben Rollcontainer. Keine Ahnung, warum sie die Büros hier so schrillbunt eingerichtet haben. Wahrscheinlich hat der Innenarchitekt das Konzept mit dem einer Kita vertauscht, und die haben jetzt coole, geschwungene Plexiglas-Schreibtische und Freischwinger mit unbequemen Armstützen aus Chrom da rumstehen, die sie mit Schokopudding beschmieren.
    Mit einem Krachen fliegt die Bürotür wieder auf, und meine fürchterlich gut gelaunte Kollegin Anita marschiert herein. Anita klopft nie an. Warum auch? Etwas anderes als »Herein« würde sie nicht akzeptieren. Deshalb verliert sie keine Zeit und steht sofort vor meinem Schreibtisch. Sie sieht aus wie alle anderen Frauen in meinem Alter in diesem Laden: hinreißend. Ihr Wickelkleid mit Retromuster sitzt perfekt, ihre Schuhe sind doppelt so hoch wie meine, und ihr Gesicht hat sie sich auf Vogue-Cover-Niveau zurechtgeschminkt. Ich habe nicht den leisesten Schimmer, wann diese Frauen morgens aufstehen. Natürlich mache ich mich auch zurecht, aber lieber am Abend, wenn ich genug Zeit habe. Meine Motivation, das Schönheitsprozedere morgens um sieben zu beginnen, geht gegen null. Deshalb sehe ich neben meinen Kolleginnen oft wie ein Mauerblümchen aus. Aber wenigstens bin ich ausgeschlafen. Heute noch ein bisschen mehr als sonst. Das brauche ich jetzt auch, denn Anita legt
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