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Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen

Titel: Wer ins kalte Wasser springt, muss sich warm anziehen
Autoren: Julia Baehr , Christian Boehm
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künstlich verbessert«, behauptet sie.
    Mike gibt zu bedenken, ob die Frauen sich überhaupt einen Lipgloss kaufen, wenn sie doch so zufrieden sind mit ihrem natürlichen Aussehen.
    Das Argument sticht. Die meisten sind seiner Meinung, ich auch. Alles, was mich ebenmäßiger und gebräunter aussehen lässt, kann auf meine Unterstützung zählen.
    Das Stühlerücken reißt mich aus meinen Gedanken. Zufrieden verlasse ich den Konferenzraum. In anderthalb Stunden öffnet die Kantine, und mein frühstücksloser Magen freut sich schon.
    Mark hat zurückgeschrieben: Koffer? Welcher Koffer? Süße, du musst geträumt haben. Heute schon zwei Botox. Lass das ja nie machen, die alten Eulen haben gar keine Mimik mehr. Küsse.
    Botox, ich? Hm. Mit Anfang zwanzig habe ich gerne behauptet, dass ich eben einen Pony tragen würde, wenn die Stirnfalten eines Tages kämen. Mit Mitte zwanzig ließ ich mir versuchsweise einen schneiden und musste leider feststellen, dass er mir überhaupt nicht steht. Ich sah kein bisschen wie Sophie Marceau aus. Eher, wie der Name schon sagt: wie ein Pony, dem die Fransen fast in die Augen fallen. Der blöde Pony fiel auch nie schön gleichmäßig. Immer klaffte er irgendwo auf. Das Projekt Pony wurde also beerdigt, bevor sich die ersten Falten zeigten. Jetzt sind sie da, und ich werde mit ihnen leben müssen. Ich finde meine Grübelfalten peinlich, aber Botox finde ich noch peinlicher.
    Dass ich mal mit einem Schönheitschirurg liiert sein würde, hätte ich nie gedacht. Eher mit irgendwas Gutmenschelndem, um meine eigene oberflächliche Branche auszugleichen. Ein Jugendarbeiter, ein Ökobauer, ein Anwalt für Menschenrechte vielleicht. Wenn ich Mark frage, ob er nicht findet, ein Arzt sollte heilen und nicht Äußerlichkeiten optimieren, schaut er mich verwirrt an und sagt, seine Patienten empfänden das als Heilung. Er wolle Menschen helfen, und wenn ihnen eine Operation am besten helfe, sei das eben das Mittel ihrer Wahl. Außerdem, betont er an dieser Stelle immer gern, habe er ja auch schon oft Unfallopfern wieder eine schöne Nase verpasst. Das stimmt natürlich. Mal abgesehen von der ethischen Basis ist Mark einfach gut in dem, was er tut. Er ist eigentlich der Bildhauer von uns. Er weiß genau, wie das auszusehen hat, was er modellieren will, und dann macht er es so. Es ist mir ein Rätsel, wie das funktioniert, aber ich bewundere ihn dafür.
    Mein Telefon klingelt. Zum Glück ist es nicht Elaine, die mit ihrer schnarrenden Stimme langweilige Anrufer ankündigt. Es ist Mark, und ich freue mich. Zumindest kurzzeitig.
    Mark
    Aufgelegt! Mitten in meiner Erklärung, warum diese Lesung leider ohne mich stattfinden muss. Der Grund hat einen Namen: Barnie. Diesem Genie, das ich meinen besten Freund nennen darf, ist ein weiterer Streich in einer ebenso langen wie ruhmreichen Reihe gelungen. Er hat für das seit Monaten ausverkaufte AC/DC-Konzert im Olympiastadion doch noch zwei Karten aufgetrieben. Aber nix eBay, eher dunklere Kanäle.
    Luisa wusste Bescheid. Der Deal war, wenn Barnie Karten organisiert, gehe ich nicht mit auf die Lesung. Soll sie doch ihren schwulen Kollegen mitnehmen, diesen Mike. Dann hätte sie wenigstens jemanden, der bereit ist, über diesen ganzen Quatsch zu reden. »Ach, ich weiß auch nicht, aber diese Allegorie im Eröffnungskapitel. Erinnert mich an Thomas Mann, nur ohne die Mann’sche Sprachgewalt.« Oder so. Wenn ich so was höre, möchte ich nur noch tot sein. Ich verstehe nicht, was Luisa am Kunstbetrieb so toll findet. Sind doch nur Wichtigtuer. Der eine stellt Fett aus und sagt, das sei jetzt Kunst. Der andere macht einen Haufen in die Ecke und behauptet das Gleiche. Und dann kommt die Putzfrau und wischt die ganze schöne Kunst weg. Das ist Kunst. Und wenn Angus Young in kurzen Hosen auf die Bühne kommt und Gitarre spielt wie ein junger Gott. Wahrscheinlich ärgert es Luisa auch bloß, dass ich Spaß haben werde, während sie so tun muss, als ob sie sich amüsiere.
    Mit Worten kann man gar nicht beschreiben, was die australischen Rocker abliefern. Barnie und ich stehen ganz nah an der Bühne und den Boxen, Schweiß tropft uns nicht nur von der Stirn, ekstatische Wellen fließen durchs Publikum. Wir grölen, schunkeln, feiern. Kein Papst könnte eine solche Messe, ein solches Hochamt, zelebrieren. Es ist eine Offenbarung. Die Band trägt uns, und wir tragen die Band.
    Noch eine Stunde nach dem Konzert höre ich die Glocken läuten. Ich hoffe nur, dass ich zu Hause
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