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Wer im Trueben fischt

Wer im Trueben fischt

Titel: Wer im Trueben fischt
Autoren: Mechthild Lanfermann
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erfahren?«
    Martha zeigte auf das Brett.
    »Sie müssen ziehen.«
    Emma schaute auf das Spiel. Sie dachte an Tom Rosenberg, den sie nie kennen gelernt hatte und der ihr so vertraut geworden war in den letzten Tagen. Sie fuhr ganz leicht über das Brett. Die Spielsteine gerieten durcheinander.
    »Wann hast du von Tom Rosenberg erfahren?«
    Martha schaute mit verkniffenem Mund auf das Brett und bemühte sich, die Steine wieder zu ordnen. Ohne Emma anzuschauen, sagte sie:
    »Er schrieb an Bohmann, schon aus den Staaten. Bohmann bekam einen Riesenschreck und rief mich an. Ich sagte, ich würde mich um alles kümmern. Der Junge konnte kein Deutsch, aber er verstand was von Zahlen und Bilanzen. Er kannte einen Kollegen, der ihm den jungen Fisch erklärt hatte. Es war pures Glück, es wussten nur wenige, was das war.«
    Glück, dachte Emma. Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Manchmal war es besser, nicht zu wissen, hatte Waldreich gesagt.
    Martha hatte alle Steine wieder auf das Spielfeld gelegt und schob eine Figur nach vorn. Dann sah sie Emma herausfordernd an.
    »Er ließ sich die alten Akten zeigen. Er weinte, als er mir davon erzählte. Wenn er damit an die Öffentlichkeit gegangen wäre, hätte sich sehr schnell die Frage gestellt, wessen Kürzel unter den Papieren steht.«
    Emma warf einen Blick auf ihre Uhr. Vermutlich telefonierte Schneider in diesem Moment mit Blume. Ich habe nicht mehr viel Zeit, dachte sie.
    Sie wusste nicht, dass die Frau von der Postabteilung einen dicken Stapel Lizenzunterlagen auf Schneiders Schreibtisch gelegt hatte. Der Zettel von der Praktikantin ruhte ungelesen darunter.
    »Also musste er weg.«
    »Das war nicht schwer. Anton war die letzten Jahre Diabetiker gewesen, ich wusste, was zu tun war. Er hustete. Ich sagte, ich würde ihm einen Tee machen, und dann habe ich die Ampullen ins heiße Wasser gestellt. Das zerstört das Insulin. Ich musste nur in seiner Nähe bleiben. Er hat seinen Rücktritt erklärt, das hat mich auch überrascht. Aber ich sah, dass es ihm schon schlechter ging. Er schwitzte, ich nahm ihm sein Jackett ab und führte ihn in den Erste-Hilfe-Raum. Er war so arglos.«
    »Woher hattest du den Schlüssel?«
    Martha lachte. Dieses heisere Geräusch, das Emma so liebgewonnen hatte, schnürte ihr jetzt die Kehle zu.
    »Ich bitte Sie, ich bin Stiftungsmitglied. Ich hatte den ersten Stein gelegt und beim Richtfest die Schleife gebunden. Es war mir ein Leichtes, zu allem Zugang zu bekommen.«
    »Und dann bist du wieder nach vorn zu dem Fest gegangen und hast in Ruhe abgewartet.«
    Martha sah an Emma vorbei und presste die Lippen zusammen. Sie strich über die Orange in der blattförmigen Keramikschale, die wie immer auf dem kleinen Tisch stand.
    »Wir müssen alle Opfer bringen.«
    Emma beugte sich vor und fragte mit scharfer Stimme:
    »Opfer?«
    Martha sah hoch.
    »Anton war im Grunde schon krank, als wir heirateten. Mir war bald klar, dass er mich nur in Kauf nahm, um noch ein Kind zu bekommen.«
    »Warum hast du dich nicht getrennt? Du spielst mir hier vor, du wärst so stark und unabhängig! Und jetzt willst du dich so schäbig rausreden?«
    Es war still im Raum. Marthas Stimme zitterte, als sie nach einer Weile sagte:
    »Ich hab mir das verdient.«
    Emma lehnte sich wieder zurück. Sie fühlte sich sehr müde. Leise sagte sie:
    »Dieser Mann musste sterben, weil du nicht auf ein paar Einladungen verzichten willst. Weil du unbedingt irgendwo dabei sein willst, wo dich kein Mensch haben will.«
    Marthas schöne graue Augen schwammen, aber keine Träne fiel.
    »Sie wissen nicht, wie das ist.«
    Emma sagte:
    »Ich weiß genau, wie es ist, wenn man einsam ist.«
    Martha beugte sich vor und legte ihre alte Hand auf die von Emma.
    »Dann lass es doch jetzt gut sein. Alle sind tot. Die Rosenbergs, Heinrich, und ich bin es auch bald. Ich war doch damals gar nicht dabei, ich habe Anton erst nach dem Krieg kennengelernt. Immer habe ich mit der Angst gelebt, dass jemand das herausfindet. Was glaubst du, wie schwer das war! Wem nützt es, mich alte Frau jetzt noch anzuklagen?«
    Emma sah auf Marthas Hand. Warum wollen Frauen nie, dass man ihnen ihr Alter ansieht, dachte sie. Es ist schön. Die Hügel und Täler auf der Haut sind wie eine sanfte Landschaft. Sie dachte an ihre erste Begegnung mit Martha hier in der Wohnung hoch über Berlin. Wie sie Komplizinnen geworden waren bei Bohmanns Fest. Wie sie sich gefreut hatte auf die Wiedersehen mit ihr. Sie wusste, dass sie
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