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Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)

Titel: Wer hier stirbt, ist wirklich tot: Ein Provinzkrimi (German Edition)
Autoren: Maximo Duncker
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alt, durch das vermeidbare Zugunglück zu Geschichte geworden, abgehakt und abgelegt in den Annalen dieses dreimal verfluchten Schicksalsjahres. Und: Das Ereignis wurde nicht einmal für die Jahresendabrechnungen wieder ausgegraben, was van Harm ein wenig ärgerte, denn er hatte fest damit gerechnet, in die eine oder andere dieser Shows eingeladen zu werden, diese kitschig-sentimentalen Rückblicke, die kurz vor Weihnachten auf den Kanälen flimmerten. Vollgepackt mit all den Bildern von Erdbeben und Überschwemmungen, von Vulkanausbrüchen, Hungersnöten und Bürgerkriegen. Und natürlich von großen ratlosen Kinderaugen inmitten der endlosen Trümmerhalden, die diese heillose Welt war.
    Und am grauenhaftesten, am abgeschmacktesten war es, dass die schmierige Musik, die die Bilder untermalte, einem allen Ernstes die Tränen in die Augen treiben konnte. In jeder Adventszeit, Jahr für Jahr wieder. Tränen des Selbstmitleids, nichts anderes, das wusste van Harm, weil man so gerührt war von der eigenen Rührung.
    Noch bevor der Frühling beginnen konnte, war also das öffentliche Interesse an dem Fall wieder erloschen, oder wie van Harm – verbittert, am Boden, einsamer denn je und allmählich auch noch paranoid werdend – es ein Jahr nach dem Ereignis formulierte: unterdrückt worden. Die Öffentlichkeit hatte genug vom Anschlag auf van Harms Blatt, und die Konkurrenz war vermutlich sauer, dass es ohne eigene Leistung in den Fokus der Aufmerksamkeit gelangt war und sich dort eine Woche lang selbstgefällig und trotz des Unglücks irgendwie zufrieden hatte bauchpinseln lassen.
    So war es dann kein Wunder, dass die zweite Horrormeldung des Jahres, die seine Zeitung betraf, die vor allem aber Kai van Harm höchstpersönlich anging, kaum noch von Branchenfremden wahrgenommen wurde. In briefmarkengroßen Kästchen war das zu lesen, was sein Leben mehr noch als das Unglück im Januar aus der Bahn warf. Auf den Medienseiten der Überregionalen ganz unten, neben den Klatsch-und Tratschspalten, erschlagen von der Wucht des Fernsehprogrammblocks. Eine lapidare Notiz, die es jedoch in sich hatte.
    Die ausführliche Version dieser Nachricht bekam Kai van Harm wenig später von der Post zugestellt. Schon leicht nervös wegen des Absenders öffnete er das Schreiben. Auf schwerem Büttenpapier teilte man ihm mit, dass der Verlag, der neben dem Berliner Blatt noch fünf weitere lokale Tageszeitungen und ein bundesweit erscheinendes besaß, sich gezwungen sähe, auf den Strukturwandel der Medienlandschaft zu reagieren. Wirtschaftsprüfer waren engagiert worden. Hatten unbemerkt die internen Abläufe kontrolliert, und nach drei Monaten jene Schlüsse gezogen, die der Verlagsvorstand gewollt hatte: aus vorgeblichen Kostengründen die Hälfte der bisherigen Belegschaft zu entlassen. Die vielen übers Land verteilten Redaktionen für Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport würden zu je einer gebündelt, die von ihrem gemeinsamen neuen Standort in Frankfurt am Main die Nachrichten für alle zur Verlagsgruppe gehörenden Blätter produzieren würden. Man erwarte sich davon synergetische Effekte . Das Lokale dagegen, Markenzeichen und Kernkompetenz des Unternehmens, werde gestärkt, indem die bisherigen Redaktionen in eigenständige Regio-Cluster ausgelagert würden, die von nun an auf Honorar-beziehungsweise Erfolgsbasis ihrem jeweiligen Stammblatt zuarbeiteten.
    Angesichts der aktuellen Wirtschaftslage und vor allem auch wegen des Internets, das Nachrichten rund um die Uhr anbiete, ohne Redaktionsschluss und außerdem kostenlos, sehe man sich gegen den eigenen Willen zu solch drastischen Maßnahmen gezwungen und bedaure außerordentlich, dass sich aus oben angeführten Gründen die gemeinsamen Wege von nun an trennen würden. Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen für die Zukunft.
    Van Harm zitterte, als er den Brief zu Ende gelesen hatte. Sein Arbeitsplatz war binnen eines Monats zum zweiten Mal explodiert, nun endgültig.
    Es war Sonnabend, er stand unten am Briefkasten und traute sich nicht mehr hoch. Draußen auf der Straße begann das Wochenendtreiben. Die Sonne schien, im schmalen Vorgarten des Hauses blühten Narzissen und Osterglocken.
    Eigentlich hatte er vorgehabt, nach dem Frühstück auf den Markt zu gehen. Fisch zu kaufen oder eine Maispoularde, Wein dazu, vielleicht einen mittelschweren, weißen, fruchtig-spritzigen Bordeaux aus dem Medoc, einen Kanister griechisches Olivenöl, jungen Knoblauch, rote Paprika,
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