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Wer bin ich ohne dich

Wer bin ich ohne dich

Titel: Wer bin ich ohne dich
Autoren: Ursula Nuber
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dass es bis an den Leib hinein fuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.
    *
    Die Krankheit Depression hat nichts, aber auch gar nichts Märchenhaftes. Und doch beginnt dieses Kapitel über die Situation von depressiv erkrankten Frauen mit einem Märchen. Aus gutem Grund: Denn in der Geschichte von der Müllerstochter und dem erpresserischen Rumpelstilzchen verbergen sich Antworten auf drängende Fragen: Warum werden Frauen depressiv? Warum erkranken Frauen doppelt so häufig wie Männer? Und: Sind die bislang diskutierten Erklärungen hilfreich? Werden sie dem Erleben und den Erfahrungen betroffener Frauen gerecht?
    Auf den ersten Blick hat das Märchen vom Rumpelstilzchen natürlich nichts mit der Krankheit Depression zu tun. Vordergründig handelt es von einem Mädchen, das seinem armen Vater zu Willen sein will und für den König aus Stroh Gold spinnen soll. Erfüllt sie diesen Auftrag, so winkt ihr das Glück (der König heiratet sie und macht sie zur Königin), erfüllt sie ihn nicht, wartet der Tod. Als Kind haben wohl die meisten Frauen Rumpelstilzchen , wie so viele Märchen, mit Angstlust gehört und gelesen. Sie haben um die Müllerstochter gebangt, und sie haben ihr den Sieg über das böse Männchen von Herzen gegönnt. Natürlich fanden sie es toll und romantisch, dass das arme Mädchen den König für sich gewinnen konnte. Die Moral von der Geschicht’ haben sie verstanden: Das Gute siegt, das Böse hat keine Chance.
    Doch dieses Märchen hat noch viel mehr zu erzählen: Die Geschichte von der Müllerstochter und dem gierigen Männchen ist | 20 | auch eine Geschichte über die weibliche Depression – und über den Sieg darüber. Analysiert man Rumpelstilzchen unter diesem Gesichtspunkt, werden frappierende Parallelen zwischen den Erfahrungen der Müllerstochter und den Erfahrungen realer Frauen deutlich. Anhand dieser Parallelen lässt sich eindrucksvoll aufzeigen, wie das Leben vieler Frauen heute aussieht – mögen sie nach außen hin noch so emanzipiert und tüchtig erscheinen – und wo mögliche Wurzeln einer depressiven Erkrankung liegen.
    Erste Parallele: Wie die Müllerstochter versuchen auch reale Frauen oft, in ihrem Alltag Stroh zu Gold zu spinnen. Auch sie nehmen unmögliche Aufträge und Herausforderungen an und verlangen von sich selbst Unmögliches.
    Das Verhalten der Müllerstochter dürfte vielen Frauen nicht fremd sein. So wie das Mädchen unbedingt die gestellte Aufgabe erfüllen und den Vater sowie den König nicht enttäuschen möchte, so bemühen sich auch reale Frauen, es den Menschen in ihrem Leben möglichst recht zu machen. Auch sie sagen viel zu häufig »ja, mache ich«, »ja, übernehme ich, »ja, kann ich«, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, ob sie wirklich Zeit, Kraft und Lust haben, die Anforderungen und Bedürfnisse anderer zu erfüllen. Und wie die junge Frau im Märchen versuchen sie, ihre Zweifel, Ängste, ihre Erschöpfung und oftmals auch Verzweiflung hinter einer Maske der Tüchtigkeit und Perfektion zu verstecken.
    Die 45-jährige Ann-Katrin ist alleinerziehend. Sie steht werktags um 5 Uhr auf, bringt den Haushalt in Ordnung, weckt ihre Tochter, fährt sie zur Schule und beeilt sich dann, zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Die Mittagszeit verbringt sie mit einkaufen, Behördengängen oder Arztbesuchen. Nach 8 Stunden Arbeit holt sie die Tochter Sandra bei der Oma ab, die sich nach der Schule um die Enkelin kümmert. Dann kocht | 21 | sie – eine warme Mahlzeit am Tag muss schließlich sein –, spielt mit der Tochter, bringt sie zu Bett. Zu den
Tagesthemen
schaltet sie den Fernseher ein, um zu erfahren, was in der Welt los ist. Manchmal bügelt sie dabei noch. Spätestens um 21 Uhr liegt sie dann selbst im Bett. Lesen, einen spannenden Film anschauen, mit einer Freundin telefonieren – für all das hat sie meist keine Kraft mehr. Lange Zeit hat sie diesen täglichen Ablauf problemlos eingehalten und war auch stolz darauf, dass ihr das gelang. Doch in letzter Zeit hat sie das Gefühl, Blei in den Beinen zu haben. Am liebsten würde sie morgens gar nicht erst aufstehen. Trotz dieser Müdigkeit schläft sie schlecht und der Gedanke, dass ihr Leben sinnlos ist, kommt ihr immer häufiger in den Sinn. Darüber sprechen kann und will sie mit niemandem. Sie glaubt, dass ihr sowieso niemand helfen kann.
    Es ist bewundernswert, wie Frauen heute das Leben meistern, das häufig durch vielfältige Aufgaben
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