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Wer bin ich ohne dich

Wer bin ich ohne dich

Titel: Wer bin ich ohne dich
Autoren: Ursula Nuber
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weibliche Geschlecht aufgrund der spezifischen Aufgaben und Belastungen extrem gefährdet. Die erste These dieses Buches lautet daher:
    Die weibliche Depression ist eine Stresserkrankung: Frauen sind spezifischen Stressoren ausgesetzt, die in einem Männerleben nicht so häufig oder gar nicht vorkommen.
    Der zweite Schwerpunkt dieses Buches widmet sich einer Beobachtung, die in der Diskussion um die Entstehung der weiblichen Depression häufig nicht angemessen berücksichtigt und noch seltener richtig gewichtet wird: Den Frauen, die depressiv erkranken, fehlen fast immer stützende, zugewandte, nährende und wärmende Beziehungen zu anderen wichtigen Menschen in ihrem Leben. Spricht man mit betroffenen Frauen darüber, warum sie selbst glauben, dass sie depressiv geworden sind, dann unterscheiden sich ihre Erklärungen deutlich von denen der Experten. Sie erzählen vom Stress in ihrem Alltag und von ihrer Kindheit, die wenig erfreulich war, sie berichten über ihre Sehnsucht nach einer liebevollen, unterstützenden Beziehung. Und meist haben sie, ehe sie krank wurden, einen schweren Verlust erlitten. Dabei kann es sich um den Verlust eines wichtigen Menschen durch Tod oder Trennung handeln, aber auch um einen Verlust im übertragenen Sinn: Wenn es Frauen nicht gelingt, tragfähige, auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen und Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, dann empfinden sie das nicht nur als persönliches Versagen, sondern auch als tief greifenden Verlust, der sie jeglicher Hoffnung beraubt. Sie spüren, dass sie keinen wirklichen Kontakt zu anderen haben, dass Intimität und Nähe in ihrem Leben fehlen – und sie geben sich die Schuld dafür. | 12 |
    Scheitern Beziehungen oder gelingen sie nicht so, wie Frauen es sich wünschen, übernehmen Frauen die Verantwortung. Sie glauben, dass sie diese Beziehungsprobleme nicht hätten, wenn sie besser, attraktiver, klüger, perfekter wären. Dann würden sie bekommen, was sie ersehnen: Nähe, Zuwendung, Verständnis, Kontakt. Das Misslingen von Beziehungen stimuliert nur noch mehr die Bemühungen um diese. Die Frauen erhöhen ihren Einsatz: Sie sind noch netter, noch rücksichtsvoller, noch hilfsbereiter, und sie vernachlässigen noch bereitwilliger ihre eigenen Bedürfnisse, Standpunkte, Ziele. Vor allem aber unterdrücken sie nach Möglichkeit all ihre »negativen« Impulse. Wut und Ärger, Aggression und Enttäuschung, so glauben sie, dürfen nicht gezeigt werden, denn die harmonische Beziehung zu anderen Menschen ist wichtiger als die eigene Person. Das Eigene – eigene Bedürfnisse, Wünsche, Ärger – wird gehemmt, um die anderen für sich zu gewinnen. Der Preis dafür ist hoch: Der Kontakt zu sich selbst geht verloren.
    Häufig wird Frauen ihre starke Orientierung auf andere Menschen als Abhängigkeit, als Unselbstständigkeit und Unreife ausgelegt. Diese Vorwürfe machen sie meist mut- und hilflos. Die Wahrnehmung depressiver Frauen ist: Wären sie selbstständiger und unabhängiger, dann wären sie nicht depressiv. Hätten sie nicht so hohe Ansprüche und Erwartungen an andere Menschen, vor allem an ihre Partner, ginge es ihnen besser. In ihrer Angst, die sich bei vielen Frauen – ausgesprochen oder unausgesprochen – in der Frage ausdrückt »Wer bin ich ohne dich?«, sehen sie bestätigt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Woher diese Angst kommt und dass sie durchaus nachvollziehbare Gründe hat, wissen die betroffenen Frauen nicht.
    Autonomie und Eigenständigkeit gelten in unserer Gesellschaft zu Recht als wichtige Eigenschaften. Übersehen wird dabei aber, dass Beziehungsfähigkeit für alle Menschen – vor allem | 13 | aber für Frauen – eine ebenso große Bedeutung hat. Fühlen sich Frauen in ihrer Sehnsucht nach verlässlichen, emotionalen Beziehungen abgewertet, werden sie als »abhängig« und »unselbstständig« abgestempelt, müssen sie sich zwangsläufig infrage stellen. Es fällt ihnen dann sehr schwer, ihr Bedürfnis nach »in Beziehung sein« positiv zu bewerten und selbstbewusst dafür zu sorgen, dass es Erfüllung findet. Depressive und depressionsgefährdete Frauen sehen nur die Schattenseite ihrer Sehnsucht nach verlässlichen Beziehungen. Es fehlt ihnen das Bewusstsein und das Verständnis dafür, wie wichtig andere Menschen für sie sind, und dass ihr Leiden in und an Beziehungen nicht ihre Schuld und ihr Unvermögen ist. Und auch Experten, bei denen depressiv erkrankte Frauen Hilfe suchen, ist der
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