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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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weiß nur eines: Ich gehe, wie so oft in meinem Leben, aber diesmal fühlt es sich so an, als wäre es das letzte Mal. Der endgültige Abschied. Ich schließe die Augen. Ich bin froh darüber.
    Als die Schwester – es ist Fidelma, glaube ich –, hereinkommt und sagt: »Mr. Waters, Sie haben Besuch«, bin ich längst fort.
    Weit fort.



71
    Stanley warf dem Taxifahrer einen Zwanziger hin und sagte, er könne das Wechselgeld behalten, dann sprang er aus dem Wagen und eilte auf das Gebäude zu. Gleich hinter der Tür kam er schlitternd zum Stehen. Er musste nicht weit laufen, musste niemanden nach etwas fragen.
    Denn da war sie – Dara Flood. Sie saß auf einem ramponierten Sofa im Empfangsbereich, einen Plastikbecher in den Händen. Sie trug einen dunkelblauen Jogginganzug, ein weißes T-Shirt und dazu weiße Turnschuhe mit dunkelblauen Streifen. Neben ihr lag ihr Dufflecoat, ihr Rucksack lehnte an ihren Beinen wie ein treuer Jagdhund. Stanley betrachtete sie einen Moment lang schweigend. Sie schien seinen Blick zu spüren, denn sie hob den Kopf. Ihr Gesicht war noch blasser als sonst, ihre marineblauen Augen wirkten dunkler, die Schatten darunter glichen Blutergüssen. Sie wirkte erschöpft, als hätte sie seit Ewigkeiten nicht geschlafen. Und sie sah aus, als würde sie frieren. Als wäre sie eingehüllt von einer Kälte, die nur schwer zu vertreiben ist.
    Er ging auf sie zu. Sie erhob sich und sah ihn an mit diesem verletzlichen Blick, als könnte gleich etwas Schreckliches geschehen. In drei Schritten war er bei ihr, legte die Arme um sie und spürte, wie sie sich an ihn lehnte. Das Gefühl ihrer weichen Haut an seinem Hals raubte ihm schier den Atem. Sie fragte nicht, was er hier machte, wie er sie gefunden hatte oder was zum Teufel mit seinen Stirnfransen
passiert war. Nichts dergleichen. Als sie schließlich etwas sagte, war es nur ein Flüstern. Er spürte den Lufthauch ihrer Worte an seinem Ohr.
    »Ich bin froh, dass du da bist«, sagte sie, und Stanley verspürte zum ersten Mal seit langem einen gewissen Optimismus. Er drückte sie noch fester an sich und vergrub die Nase in ihrem seidigen schwarzen Haar.
    Dann schob er Dara sanft von sich und sah ihr ins Gesicht. »Hast du ihn gefunden?«, fragte er. Dara biss sich auf die Unterlippe. Stanley dachte schon, sie hätte seine Frage nicht gehört, doch dann nickte sie. Langsam und bedächtig.
    »Ja«, sagte sie. »Ich habe ihn gefunden. Ich habe Mr. Flood gefunden.«



72
    Man brachte sie hinunter in den Keller des Gebäudes. Es war keine richtige Leichenhalle, nur ein düsterer Raum, in dem eine eisige Kälte herrschte. Die einzige Lichtquelle war eine kleine Luke, die sich hoch oben in der grauen Wand befand. Das Licht, das durch sie hereindrang, war fahl. Schwach. Dara ging hinein.
    Er lag auf einem OP-Tisch in der Mitte des Raumes, zugedeckt mit einem steifen weißen Laken. Dara trat an den Tisch und sah zu Stanley, der auf der anderen Seite des Tisches stand und fragend die Augenbrauen hob. Als sie nickte, griff er nach dem Laken, zögerte nur einen Moment, ehe er den Saum berührte.
    »Warte«, sagte Dara. Er hielt inne und sah sie abwartend an.
    Dara schloss die Augen und begann zu zählen. Zehn, neun, acht, sieben,  … Sie konzentrierte sich darauf, atmete bei den geraden Zahlen ein und bei den ungeraden aus. Dann öffnete sie die Augen. Stanley stand da wie zuvor. Er sah sie an und wartete ab.
    »Bist du bereit?«, fragte er.
    Sie nickte.
    Stanley klappte mit einer einzigen, schwungvollen Bewegung das Laken zurück, und da lag er. Mr. Flood. Ihr Vater. Er war es, kein Zweifel.
    Er trug einen weißen Schlafanzug mit blauen Streifen,
der brandneu aussah und Dara ein Lächeln entlockte. Sie wusste nicht viel über ihren Vater, aber sie war überzeugt, dass er sich ihr niemals freiwillig in diesem Schlafanzug gezeigt hätte.
    Das Oberteil bauschte sich um seinen Oberkörper, als wäre es ihm zwei Nummern zu groß. Er sah aus, als wäre er früher größer gewesen. Als wäre er geschrumpft. Seine Haut war runzlig wie ein uralter Apfel. Verwelkt. So sah er aus. Verfallen. Verbraucht. Das seidige schwarze Haar, das Mrs. Flood so gern am Freitagabend gewaschen und geschnitten hatte, war Strähne für Strähne der Chemotherapie zum Opfer gefallen, wie Dara von Fidelma wusste. Wegen der Chemotherapie war auch völlig ausgeschlossen, dass Mr. Flood für irgendjemanden als Organspender in Frage kam. Der Krebs hatte sich von der Lunge aus in den gesamten
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