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Wenn ich dich gefunden habe

Wenn ich dich gefunden habe

Titel: Wenn ich dich gefunden habe
Autoren: Ciara Geraghty
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mit ihrem breiten Mund, ihren weißen Zähnen und ihren glänzenden Lippen ein perfektes Lächeln.
    Da Dara wie angewurzelt stehen blieb, deutete sie auf den Korridor direkt vor ihnen und fügte hinzu: »Einfach geradeaus, dann folgen Sie dem zweiten Korridor rechts bis zum Ende und gehen durch die Flügeltür, und schon sind Sie da. Er liegt im linken Bett, am Fenster.«
    Dara war wie versteinert. Es kam ihr unwirklich vor, dass sich Mr. Flood tatsächlich hier befinden sollte, in diesem Gebäude. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie etwas anderes erwartet hatte. Eine Verwechslung. Oder dass er ausgecheckt hatte, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Es kam ihr vor wie ein Traum, dass er hier war, in diesem Hospiz. Auf der St. Killian’s Station. Im linken Bett, am Fenster.
    »Alles in Ordnung?«, fragte die junge Frau freundlich. Besorgt. Dara atmete tief durch, nickte und machte sich auf den Weg.

    Heute fühle ich mich irgendwie anders. Besser, glaube ich. Das düstere, schwere Grau, das seit Tagen, Wochen draußen vor dem Fenster herrschte, hat sich gelichtet. Ein Stück
blauer Himmel ist zu sehen, lässt auf Sonnenschein hoffen. Später vielleicht.
    Ich kann mich kaum konzentrieren, kann mich nicht erinnern, welcher Tag heute ist. Sie ist irgendwie beruhigend, diese Unwissenheit. Befreiend. Ich spüre, wie ich den Boden unter den Füßen verliere, als wäre die Straße unter mir rutschig.
    Ich höre eine Stimme.
    Sie kommt näher. Eine Mädchenstimme. Sie klingt wie die Stimme meiner Mutter, Gott hab sie selig. Wie die Stimme meiner Mutter, als sie noch jung war und ich ein kleiner Junge in kurzen Hosen. Die Stimme ist leise und tief, ein wenig rau. Ich wende den Kopf und spähe über die Betten hinweg zur Tür zu unserer Station. Doch das Licht schwindet, ich kann kaum noch etwas sehen.
    Die Stimme kommt näher.
    Ich stütze mich auf die Ellbogen auf, doch das ist anstrengend. Ich werde rasch müde. Trotzdem warte ich, den Blick auf die Tür geheftet, auf die Stimme, die wie die Stimme meiner Mutter als junge Frau klingt.
    Natürlich weiß ich, dass sie es nicht ist. Ich weiß es, und trotzdem glaube ich – glaubt der kleine Junge in mir –, dass sie es ist. Sie wird kommen und mich in die Arme schließen, wie sie es immer getan hat. Wird mich auf den Schoß nehmen, wie damals, als sie im Schaukelstuhl vor dem Kamin saß und ich für so etwas eigentlich längst zu groß war. Sie wird die Melodie summen, die sie immer gesummt hat, und mich wiegen, und ich werde die Nase in ihre weiche Halsbeuge schmiegen, wie früher, und ihren schwachen Duft einatmen. Ein süßer Duft. Ein Duft nach warmem Kuchen, der unter einer Messerschneide krümelt.
    Wenn mein Vater zu Hause war, bin ich nicht bei meiner
Mutter auf den Schoß geklettert. Das taten Jungs damals nicht. Mein Vater hat mir seine Zuneigung anders gezeigt. Er hat mir beigebracht, mit der geschlossenen Faust zuzuschlagen, fester als man denkt. Ich habe mit einem Sandsack in der Scheune geübt. Wir waren miteinander am Borora fischen. Stundenlang saßen wir in einem uralten Ruderboot, das einmal rot gewesen war, nur wir zwei. Wir sagten wenig, aber ich spürte die Wärme seines Arms, wenn etwas an der Angel zupfte und er rief: »Hol das Netz, Junge, heute Abend müssen wir nicht hungern!«
    Ich warte und lausche. Meine Augen schmerzen, das Tageslicht ist auf einmal zu hell. Es ist eine Erleichterung, sie zuzumachen. Immer wieder schließen sich flatternd meine Lider. Alle Geräusche verstummen, ich höre nur noch die Stimme meiner Mutter. Sie ist fast da. Ich will auf sie warten. Mein Körper fühlt sich leicht an. Schwerelos. Wärme hüllt mich ein wie die weiche Decke, die meine Mutter unter meinen Füßen festgesteckt hat, wenn ich in meinem Bett oben im Dachgeschoss lag, wo die Hitze aus dem Kamin nicht mehr zu spüren war.
    »Gute Nacht, Liebes«, sagte sie und beugte sich über mich, um mich auf die Stirn zu küssen. Warmer Kuchen, der unter einer Messerschneide krümelt. Dann ging sie, und zurück blieb ihr Duft, ganz zart, wie Wolkenfetzen, die über den Himmel ziehen.
    Die Stimme ist schon ganz nah. Ich versuche zu warten, versuche, dem Sog zu widerstehen. Es fühlt sich an, als würde mich eine sanfte Hand, die Hand einer Mutter, davonziehen. Mich fortführen aus diesem verfallenen Körper. Ich weiß nicht, wohin. Fort von hier.
    Jetzt ist die Wärme in mir. Sie füllt mich aus. Belebt mich. Ich glaube, ich lache. Oder weine ich? Schwer zu sagen.
Ich
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