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Wenn Ich Bleibe

Titel: Wenn Ich Bleibe
Autoren: Gayle Forman
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eines Kindes selbst noch halb in den Kinderschuhen zu stecken, war vielleicht gerade noch vertretbar gewesen, aber bei zwei Kindern war es dann doch Zeit, erwachsen zu werden – Zeit, sich eine Fliege umzubinden.
    Heute Morgen trägt er auch eine, zusammen mit einem karierten Sportjackett und hässlichen Halbschuhen, die man Budapester nennt. »Gerade richtig für einen Schneesturm«, bemerke ich.
    »Ich bin wie der Postbote«, erwidert mein Vater und hebt einen von Teddys Plastikdinosauriern auf, die auf dem Rasen vor dem Haus herumliegen. »Weder Sturm noch Regen noch Schnee können mich dazu bringen, mich wie ein Holzfäller anzuziehen.« Dann fängt er an, mit dem Plastikdinosaurier den Schnee vom Auto zu schieben.
    »He, meine Vorfahren waren Holzfäller«, sagt meine Mutter in warnendem Ton. »Mach dich bloß nicht über die Arbeiterklasse lustig.«
    »Würde mir nicht im Traum einfallen«, sagt mein Vater. »Ich will mich nur von der Masse abheben.«
    Mein Vater muss den Zündschlüssel ein paarmal herumdrehen, ehe der Wagen keuchend zum Leben erwacht. Wie üblich entbrennt ein Kampf um die Herrschaft
über das Radio. Meine Mutter will NPR hören, den Sender, dessen Programm nicht durch Werbung unterbrochen wird. Mein Vater verlangt nach Frank Sinatra. Teddy besteht auf SpongeBob. Ich würde am liebsten klassische Musik hören, aber da es außer mir keinen einzigen Klassikfan in der Familie gibt, bin ich gewillt, mich mit »Shooting Star« zu begnügen.
    Mein Vater führt die Verhandlung. »Da wir ja heute schulfrei haben, sollten wir uns erst einmal die Nachrichten anhören, damit wir nachher nicht als Ignoranzen dastehen …«
    »Heißt das nicht Ignoranten?«, unterbricht ihn meine Mutter.
    Mein Vater rollt mit den Augen und legt seine rechte Hand auf die linke meiner Mutter. Dann räuspert er sich auf lehrerhafte Art. »Wie ich gerade sagen wollte: Zuerst NPR, und wenn die Nachrichten vorbei sind, schalten wir auf den Klassiksender um. Teddy, wir wollen dich nicht quälen; du darfst dir den Discman ins Ohr stöpseln.« Damit zieht er das Verbindungskabel des tragbaren CD-Players heraus, der an das Autoradio angeschlossen war. »Aber du wirst in meinem Auto auf keinen Fall Alice Cooper hören. Das verbiete ich.« Mein Vater kramt im Handschuhfach herum. »Wie wär’s mit Jonathan Richman?«
    »Ich will SpongeBob hören. Liegt schon im CD-Player!«, schreit Teddy, hopst auf und ab und streckt die Hand nach dem Gerät aus. Die Pfannkuchen mit
Schokostreuseln haben seine lebhafte Wesensart erst richtig befeuert.
    »Sohn, du brichst mir das Herz«, scherzt mein Vater. Sowohl Teddy als auch ich wurden zu den unerträglichen Klängen von Jonathan Richman aufgezogen, der für meine Eltern so etwas wie ein Heiliger in Sachen Musik ist.
    Nachdem die musikalische Auswahl getroffen ist, fahren wir los. Auf der Straße liegen hier und da kleine Flecken aus Schnee, doch meistenteils ist sie einfach nur nass. Aber wir sind hier in Oregon. Hier sind die Straßen ständig nass. Meine Mutter meint immer, dass die meisten Leute erst dann Probleme kriegen, wenn die Straßen einmal trocken sind. »Dann werden sie übermütig, werfen alle Vorsicht über Bord und fahren wie die letzten Arschlöcher. Das sind Freudentage für die Cops, die einen Raser nach dem anderen hoppnehmen.«
    Ich lehne den Kopf gegen das Fenster und schaue zu, wie die Landschaft an mir vorbeisaust, ein Tableau aus dunkelgrünen, schneebesprenkelten Tannen, hauchzarten Schleiern aus weißem Nebel und schweren grauen Sturmwolken über uns. Im Auto ist es so warm, dass die Scheiben beschlagen, und ich male kleine Schnörkel auf die feuchte Fläche.
    Als die Nachrichten vorbei sind, schalten wir auf Klassik um. Ich höre die ersten Takte von Beethovens Cellosonate Nummer drei, genau das Stück, an dem ich eigentlich heute Nachmittag hätte arbeiten sollen.
Irgendwie kommt es mir so vor, als würde die Musik extra für mich spielen. Ich konzentriere mich auf die Noten, stelle mir vor, wie ich sie spiele, und bin dankbar für die Möglichkeit, doch noch üben zu können, glücklich, in einem warmen Auto zu sitzen – mit meiner Sonate und meiner Familie. Ich schließe die Augen.
     
    Man sollte nicht glauben, dass das Radio danach noch funktioniert. Aber das tut es tatsächlich.
    Der Wagen ist wie ausgeweidet. Der Aufprall des Kleinlasters, der sich mit beinahe hundert Stundenkilometern in die Beifahrerseite pflügte, hatte die Wucht einer Bombe. Er riss die
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