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Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)

Titel: Wenn die Nacht in Scherben fällt (German Edition)
Autoren: Anika Beer
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um einen Menschen aufgebaut, dem er in seinem tristen Alltag begegnet war. Er hatte nicht einmal gewusst, dass er das überhaupt einmal wollen könnte. Und doch waren im Gespräch mit Nele ganz von selbst diese Bilder aufgetaucht, von denen Jari wusste, dass sie sich schon sehr bald zu einem intensiven Tagtraum verweben würden– begleitet von dem unsinnigen und zugleich geradezu berauschenden Gefühl, dass es diesmal vielleicht nicht bei einer Wunschvorstellung bleiben musste.
    Natürlich hatte er nichts davon zu Nele gesagt. Stattdessen war er geflohen. Denn wie sollte sie eine so überwältigende und verwirrende Reaktion verstehen? Nein, er konnte es ihr nicht erzählen. Noch nicht. Aber irgendwann vielleicht. Und bis dahin würde er eben woanders weiterträumen.
    ***
    Am Abend saß Nele an ihrem nagelneuen Schreibtisch vor dem Laptop und schrieb eine Mail an ihre beste Freundin Lilly. Das hatten sie sich versprochen, als Nele und ihre Familie aus München wegzogen– sich jeden Tag zu melden und gegenseitig auf dem Laufenden zu halten. Und daran hielt Nele sich auch. Oder zumindest versuchte sie es.
    Durch den Boden ihres Zimmers konnte sie gedämpft den Fernseher aus dem Wohnzimmer hören, wo ihre Eltern den Abend bei Bier und Chips ausklingen ließen. Das ganze Haus atmete noch das Neue, Ungewohnte, das sich nach nur zwei Tagen noch nicht vom Alltagstrott verdrängen lassen wollte. Und trotzdem wusste Nele nicht recht, wo sie anfangen sollte, die Ereignisse dieses Tages aufzuschreiben. Oder welche Worte sie dafür wählen konnte.
    Sie saß bestimmt schon zwanzig Minuten dort, ohne auch nur ein einziges Wort getippt zu haben, als sie plötzlich bemerkte, dass sie beobachtet wurde. Draußen auf dem Balkongeländer saß eine rauchgraue Katze und musterte sie aus in der Dunkelheit glühenden Augen. Oder wahrscheinlich war es doch eher ein Kater, so riesig und muskulös, wie dieses Tier war. Eine ganze Weile sahen er und Nele sich an. Reglos. Ohne zu blinzeln, während sie beide darauf zu warten schienen, dass der andere sich rührte. Es war seltsam, dachte Nele und spürte, wie sich in ihrem Magen ein leicht unbehagliches Kribbeln regte. Warum nur hatte sie das starke Gefühl, dieser Kater müsse ihr bekannt vorkommen? Als sei sie ihm schon irgendwo einmal begegnet. Aber wo hätte das gewesen sein sollen?
    Schließlich stand sie entschlossen auf, öffnete die Balkontür und ging nach draußen. Die kühle Abendluft überzog ihre Arme selbst unter dem Wollpulli mit einer Gänsehaut, und Nele schob fröstelnd die Hände unter die Achseln. »Hey, du«, sagte sie zu dem Kater und blieb dicht vor ihm stehen. Doch noch immer dachte er nicht einmal daran, seinen Platz aufzugeben. »Was machst du denn hier? Ist dir nicht kalt bei dem Wetter?«
    Der Kater zuckte mit den Ohren. Ansonsten rührte er sich nicht, sondern sah Nele nur weiter unbeeindruckt aus seinen großen Augen an. Aus der Nähe hatten sie eine schöne goldgelbe Farbe.
    Vielleicht hätte sie besser vorsichtig sein sollen. Man wusste ja nie, ob fremde Tiere nicht aggressiv waren, und dieser Kater war wirklich auffällig groß. Aber aus irgendeinem Grund hatte Nele überhaupt keine Scheu vor ihm. Langsam streckte sie die Hand aus, um zu sehen, ob er sich streicheln lassen würde. Und tatsächlich drückte er kurz darauf seinen Kopf gegen ihre Handfläche, als wolle er die Streicheleinheiten sogar einfordern. Sein Fell war warm, weich und ganz glatt. Es fühlte sich wirklich gut an, irgendwie tröstlich, obwohl Nele gar nicht sagen konnte, warum sie in diesem Moment Trost hätte brauchen sollen.
    Gedankenverloren kraulte sie eine Weile das dicke Nackenfell, während sie weiter überlegte, was sie Lilly schreiben sollte. Ob sie einfach damit anfangen konnte, ihre Frage aus der letzten Mail zu beantworten? Aber das war ja auch bei Weitem nicht so leicht, wie es klang.
    Was hast du denn geträumt?, hatte Lilly gefragt. In der ersten Nacht im neuen Haus?
    Der Kater schnurrte unter Neles Hand. Es war ihr wohl noch nie so schwergefallen, einen Traum zu beschreiben, dachte sie ein wenig bedrückt. Nele hatte zu Träumen zwar schon immer ein ganz spezielles Verhältnis gehabt– aber normalerweise war es einfach. Normalerweise war sie diejenige, die bestimmte, was in ihren Träumen geschah. Sie konnte entscheiden, ob sie eingreifen oder sich einfach zurücklehnen und die Geschehnisse beobachten wollte. Sie konnte die Träume in der nächsten Nacht fortsetzen, wenn sie
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