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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
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manchmal konnte ich einen Eimer heraufholen und direkt daraus trinken, auch wenn Mama mir erklärte, dass es nicht gut sei, aus etwas zu trinken, das an einer Stelle hing, wo Käfer landen und darüberkriechen konnten. (Hin und wieder sah ich, wie Fliegen auf unserem Krug mit Eistee landeten, wenn wir vergessen hatten, ein Tuch darüberzulegen. Mama wischte den Rand dann nur ab und goss trotzdem Tee ein. Aber das war drinnen und deshalb irgendwie anders.) Sie schüttete das Wasser immer aus dem hohen, schmalen Brunneneimer in den Eimer aus dem Haus, der niedriger und kleiner war, und erst daraus kam das Wasser in unsere Waschschüsseln und Krüge und Kochtöpfe. Aber abends trank ich trotzdem manchmal große Schlucke davon, bevor ich den Rest wieder in das schwarze Maul des Brunnens hinabgoss.
    Ich war das einzige Mädchen, das sich traute, an der Badestelle im Fluss zu schwimmen. Zuerst flüchteten alle Jungen und erklärten, dass sie nie mehr wiederkommen würden, solange ich mich da herumtrieb. Aber dann kamen sie doch zurück. Papa mochte es nicht, dass ich mit ihnen zusammen schwamm, doch als ich anfing, Jack mitzunehmen, hatte er ein besseres Gefühl. Jack spielte mit den Jungen in seinem Alter, während ich für mich allein blieb, probierte, wie tief ich tauchen konnte, mir mit Armen wie Schmetterlingsflügel einen Weg durchs Wasser bahnte, meine Haare um mich herumwirbeln ließ und tat, als wäre ich eine Meerhexe mit Haaren aus Seetang.
    Aber man konnte nicht immer zum Fluss hinunter. Der Brunnen jedoch war immer da und wartete. Ich konnte das Wasser in seinem Inneren riechen, und ich wusste, dass er unten am Boden voll kühlem, glitschigem Moos war, wie es auch auf den Felsen am Fluss wuchs. Ich starrte hinunter in die Tiefe und stellte mir vor, wie wir eines Tages Meerjungfrauen oder sprechende Fische mit unserem Badewasser heraufholen würden.
    Schütte das Kind nicht mit dem Bade aus.
    Nach dem toten Baby sah ich nicht mehr gern dort hinunter. Ich dachte nicht mehr an sprechende Fische. Ich dachte an Albträume. Sie begannen meist damit, dass ich mit offenen Augen unter Wasser tauchte, und dann sah ich, wie das Baby die Hände nach mir ausstreckte. Ich hatte nicht mehr genügend Luft, aber ich konnte auch nicht wieder nach oben schwimmen, weil sich das Baby an meine Haare klammerte und ich es nicht abzuschütteln vermochte. Zuerst konnte ich sein Gesicht nicht erkennen, aber wenn es dann den Kopf hob, sah ich, dass es an den Stellen, wo sonst die Augen sind, schwarze Löcher hatte. Es war der erste Albtraum, an den ich mich erinnern konnte, nachdem ich aufgewacht war. Und ich dachte den ganzen Tag über daran, bis ich am nächsten Abend wieder ins Bett ging und einschlief.
     
    Virgie
    Papa meinte, die Frau hätte etwas Abscheuliches getan. Und dass Gott sie richten würde. Aber ich fragte mich, ob sie vielleicht befürchtete, nicht mehr genügend Essen für eine weitere Mahlzeit zusammenzubekommen, und da ihre anderen Kinder bereits barfuß herumliefen und der Winter nahte, es so für alle das Beste sein würde. Oder hatte das Baby vielleicht immer nur geschrien, bis sie dachte, ihr würde der Kopf platzen? Lag es vielleicht daran, dass sie glaubte, es nicht länger zu schaffen, weil es das fünfte oder sechste oder auch zehnte Kind war und alles deutlich mehr war, als sie ertragen konnte?
    Ich fragte mich auch, ob Mama wohl jemals am Brunnen gestanden und sich überlegt hatte, ob ihr Leben nicht einfacher sein könnte.
     
    Tess
    An jenem Abend redeten wir beim Essen nicht viel. Man hörte vor allem die Gabeln und Messer, wie sie klack, klack machten. Dann kam das Kauen, das Herunterschlucken des Eistees und ein leises Schmatzen von Jack. Daraufhin sagte Mama: »Hör auf zu schmatzen, Jack.« Dann wieder klack, klack . Leckerer gelber Kürbis und Zuckererbsen und etwas gebratener Schinken und Fladen. Wir hatten schon seit Monaten keinen Schinken mehr gehabt, und wir hatten nicht einmal ein Schwein schlachten müssen, sagte Mama. Sie meinte, wir sollten uns bei den Hudsons bedanken, wenn wir sie trafen.
    Schließlich wischte sich Papa den Mund ab. Er war immer als Erster mit dem Essen fertig. »Hat gut geschmeckt, Leta.«
    Wir stimmten ihm zu und erklärten Mama, wie lecker es mal wieder gewesen sei. Sie lächelte und sagte, so schnell und so leise sie konnte: »Danke«. Dann blickte sie auf meinen Teller und runzelte die Stirn. »Du hast aber nicht viel gegessen, Tessie.«
    »Bist du noch
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