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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
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konnte – mit nichts als der Nacht und den Bäumen um mich und einem schmalen Mond, der aussah, als wäre er aus dem Himmel gestanzt. Der Garten duftete stärker als das übrig gebliebene geröstete Maisbrot und die Erbsen mit Zwiebeln. Eine leichte Brise schlich auf Zehenspitzen über die Veranda und trug die Gerüche von vergangenen und kommenden Mahlzeiten mit sich, ebenso wie einen Hauch von Papas Zigarette und Bruchstücke des Gesprächs auf der Veranda vor dem Haus. Es war die beste Zeit des Tages, um in der Nähe des Brunnens zu sitzen, dessen Holzbottich eine Ecke der Veranda einnahm, während ich in der anderen saß.
    Damals liebte ich den Brunnen.
    Ich lehnte mich an die Küchentür und blickte durch die Holzstäbe des Geländers, auch wenn ich nichts außer Schwarz sah. Obwohl keine Wolken den Mond oder die funkelnden Sterne verdeckten, war es dunkel. Durch das Licht, das aus der Küchentür fiel, konnte ich den äußeren Rand der Veranda erkennen. Die Frau bemerkte mich jedoch nicht. Manchmal holten sich die Hudsons von unten ihr Trinkwasser bei uns – sie hatten keinen eigenen Brunnen –, und so glaubte ich zuerst, dass es Mrs. Hudson sein müsse. Aber Mrs. Hudson war wie ein Vogel, und diese Frau war groß und schwer und hatte Schultern wie ein Mann. Sie nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Dann wuchtete sie den schweren Deckel vom Brunnen, wie das sonst nur ein Mann tat – ohne Schwierigkeiten.
    Zuerst bemerkte ich den Säugling nicht, weil er unter ihrem Mantel versteckt war. Doch dann holte sie ihn heraus, ein regungsloses, bohnenförmiges Bündel, das so dick eingewickelt war, als ob Januar wäre. Ich hätte sie mit fünf, sechs Schritten erreichen können – wenn ich mich von der Stelle gerührt hätte.
    Einen Moment lang hielt sie das Bündel wie ein Baby unter ihr Kinn gedrückt, als wollte sie es in den Schlaf wiegen. Sie flüsterte etwas. Die Decke rutschte vom Köpfchen herab, und ich konnte ein Stück Haut sehen. Dann warf sie es hinein. Einfach so. Kurz nach dem Aufschlag im Wasser – es war ein leises, schwaches Geräusch – wuchtete sie den eckigen Deckel wieder hoch und schob ihn mit sicheren Bewegungen genau an die dafür vorgesehene Stelle. Trotz ihres Gewichts ächzten die Verandabretter nicht, als sie danach verschwand.
    Das Platschen war weniger das Geräusch des Kindes, wie es im Wasser aufschlug, als vielmehr ein kurzer Aufschrei, den mein Brunnen von sich gab. Er klang entsetzt und aufgewühlt, als wüsste er, dass sich etwas Schreckliches in seinem Inneren befand.
    Als riefe er mich um Hilfe.
    Ich spürte, wie meine Zähne in meine Unterlippe bissen – vielleicht sogar so heftig, dass Blut kam. Aber ich war trotzdem leiser als eine Maus und auch regloser. Mäuse rascheln wie Murmeln, wenn sie davonflitzen.
    Nach langer Zeit – ich weiß nicht wie lange – drückte Virgie von innen gegen die Tür. Ich erkannte das Geräusch ihrer Schritte auf den Dielen und rutschte zur Seite, so dass sie den Kopf aus der Küche strecken konnte. Virgie hatte einige Zikadenhüllen wie Broschen an ihrem Kragen befestigt. Früher trugen wir sie den ganzen Sommer über in Reihen wie Knöpfe an unseren Blusen. Aber da sie im nächsten Jahr auf die Oberschule kommen sollte, würde sie die Zikaden bald nicht mehr tragen. Sie war dann endgültig zu groß dafür.
    »Wir sind alle vorn. Warum versteckst du dich hier hinten?« Sie schaute zu mir hinunter und dann zum Brunnen. »Ich wette, du tätst den Brunnen heiraten, wenn er dir einen Ring anstecken würde.«
    Hinter dem Brunnen war es pechschwarz. Jene Art von Dunkelheit, die einen glauben lässt, man würde gegen eine Wand prallen, wenn man hineinliefe. Die Frau war verschwunden.
    »Eine Frau hat da grad ein Kind reingeworfen«, erklärte ich.
    Virgie sah mich eine Weile an. »In den Brunnen?«
    Ich nickte.
    Sie lachte, und ich wusste, ohne sie anzusehen, dass sie mit den Augen rollte. »Red keinen Unsinn, und komm lieber rüber.«
    »Es stimmt aber!« Mein Mund war der einzige Teil meines Körpers, den ich noch zu bewegen vermochte. Es kam mir vor, als hätte ich in den Verandabrettern Wurzeln geschlagen.
    »Niemand ist in der Nähe des Brunnens gewesen. Hör auf, Geschichten zu erzählen.«
    Sie wusste genau, dass ich keine Geschichten erzählte. Ich schluckte, und das löste meine Füße vom Boden. Also schob ich mich mit dem Rücken an der Tür nach oben und machte einen Schritt auf den Brunnen zu. »Aber sie war hier! Eine
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