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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
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nie zuvor bei ihm erlebt hatte. »Ich dachte mir schon, dass du eines Tages irgendwohin willst, Virgie. Wusste, dass du was aus deinem Leben machen wirst. Ich hatte sowieso vor, dich auf die Schule zu schicken. Ich wusste nur nicht, welche Art von Schule du willst oder ob du das überhaupt willst. Aber es klingt ganz so, als hättest du dir bereits selbst so deine Gedanken gemacht.«
    »Ja.«
    »Du weißt, dass ich alles auf der Welt für dich tun würde, Mädchen. Ich hab zwar noch keine Ahnung wie, aber wir werden einen Weg finden, damit du diese Ausbildung machen kannst. Versprochen.«
    Und ich wusste: Wenn Papa etwas versprach, dann würde es auch eintreten.
     
    Albert
    Jonah in einem Schaukelstuhl neben mir auf der Veranda sitzen zu sehen war nicht viel anders, als wenn Oscar oder Ban da waren. Wir redeten auch nicht mehr. Wir wiesen nur auf einen vorbeifliegenden Roten Kardinal oder einen Blaufinken hin. Oder wir zeigten auf einen Specht oder ein Streifenhörnchen. Die meiste Zeit aber schaukelten wir vor und zurück. Leta füllte immer wieder unsere Kaffeetassen auf, lächelte Jonah an und kümmerte sich um ihn, wie sie das bei jedem meiner Freunde getan hätte. Was auch immer sie von der ganzen Sache halten mochte, unhöflich wäre sie nie gewesen. Das lag einfach nicht in ihrer Natur.
    »Dann hältst du mich also für töricht«, sagte ich schließlich zu Jonah, nachdem wir den zweiten Becher Kaffee zur Hälfte leer getrunken hatten. »Dir macht es nichts aus, anders behandelt zu werden. Wie ein Schwarzer und nicht wie ein Mensch?«
    »O doch, es stört mich schon. Mehr als Sie sich vermutlich jemals vorstellen können. Aber ich weiß, wer ich bin und wo ich bin.«
    »Was soll das heißen?«
    »Wer wird die Dinge ändern, Albert? Sie? Ich? Herr im Himmel, wann haben Sie das letzte Mal mehr als sechs Stunden durchgeschlafen? Wann haben Sie nicht länger gearbeitet, als die Sonne am Himmel stand? Wir haben keine Zeit, die Dinge zu verändern, Albert. Und keine Kraft.«
    »Das heißt nicht, dass wir’s nicht versuchen können.«
    »Und wo wollen Sie die Zeit hernehmen, um die Welt zu verändern? Ihr Tag besteht doch fast nur aus Arbeiten.«
    Ich redete mir ein, dass es die weißen Kumpel, mit denen ich arbeitete, nicht kümmerte, mit wem ich zu Abend aß. Ich wusste, dass es den meisten vermutlich tatsächlich egal gewesen wäre. Aber wenn sich einige daran stießen, und zwar genau die falschen? Das konnte bedeuten, dass es in den Gruben schwer werden würde. Es konnte bedeuten, dass Jack eines Tages keine Arbeit finden würde, wenn er einmal so weit war, oder dass die Freundinnen der Mädchen ihnen sagten, dass sie nicht mehr zu Besuch kommen dürften. Ich brauchte jeden Penny, jedes Entgegenkommen, um Virgie aufs College schicken zu können. Doch selbst wenn es meine Tochter nicht gegeben hätte, wäre mir der Gedanke an die ganzen Gemeinheiten unerträglich gewesen. Die Leute in dieser Stadt hatten sich für uns eingesetzt. Sie hatten uns gerettet, als es darum gegangen war, diese Krankenhausrechnung zu bezahlen. Ich brauchte das – meine Familie brauchte dieses Sicherheitsnetz, falls mir irgendetwas zustoßen sollte. Das wusste ich, und Jonah wusste es auch. Er wusste es noch vor mir. Ich wollte nur nicht, dass ein Abendessen so viel bedeutete.
    »Dann bleibst du also nicht zum Essen.«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Aber der Kaffee ist in Ordnung?«
    Er verschluckte sich beim Lachen. »Ja.«
    »Willst du noch einen?«, fragte ich.
    »Wenn Sie mir noch einen anbieten.«
     
    Tess
    Jack schoss tatsächlich einen Rehbock im folgenden Sommer, so wie ich es ihm aufgetragen hatte. Papa häutete das Tier und nahm es aus, und dann verschenkte er ziemlich viel davon. Wir hatten trotzdem noch so viel übrig, dass Mama eine ganze Woche lang verschiedene Rehrezepte kochen konnte. Am ersten Abend lagen große Stücke Rehbraten auf unseren Tellern und dufteten nach all den Gewürzen in Mamas kleinen Gläsern. Sie hatte das Fleisch auf einen Berg von Kartoffelbrei gebettet.
    Das Brennen des schwarzen Pfeffers und der milde Kartoffelbrei ließen mich an das Reh denken, an sein weiches Fell und die scharfen Hörner.
    »Wie hat sich das angefühlt, das Reh zu erschießen, Jack?«, fragte ich. »Hattest du Angst? Sah es gefährlich aus? Oder hast du dich schlecht gefühlt, weil es eigentlich so hübsch war?«
    Er antwortete mir mit vollem Mund. »Ich glaub, beides.«
    Er war schneller darauf gekommen als ich – nämlich
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