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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
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stellte die Frage in einer Art Singsang, als hätte ich ihr gerade erklärt, ein Vogel habe auf dem Weg zur Schule mit mir gesprochen.
    »Wirklich. Es war Mrs. Talberts Schwester. Du weißt schon – die aus Brilliant hierher gezogen ist, um bei ihnen zu wohnen.«
    Sie legte ihr Geschirrtuch beiseite und zog einen Stuhl heraus. Der Tisch schimmerte feucht. Das Geschirr und die Töpfe waren alle verräumt. Eine kleine Schüssel mit Steckrüben stand noch da, und sie hatte gerade die Hand danach ausgestreckt, ehe sie beschloss, sich erst einmal hinzusetzen. »Wie kommst du darauf, so was zu behaupten?«, fragte sie.
    »Sie hat es selbst gesagt.«
    »Sie hat gesagt, dass sie ihr totes Baby in unseren Brunnen geworfen hat?«
    Tante Lou hatte nicht genau diese Worte benutzt. »Sie hat gesagt, dass sie es getauft hat, aber dass es …«
    »Du kannst nicht einfach eine Frau beschuldigen, so was getan zu haben.«
    Ihr Stuhl kratzte über den Boden, als sie ihn zurückschob und das Geschirrtuch wieder aufnahm.
    »Aber, Mama …«
    Sie legte ein anderes Tuch über die Rüben, und ich war mir nicht sicher, ob sie überhaupt mit mir redete. »Alle scheinen hier zu versuchen, alles durcheinanderzubringen. Das ist völliger Unsinn.«
    »Ich bild mir das nicht ein, Mama.«
    »Ich will nichts weiter davon hören.« Mama brüllte nie, aber sie verschloss sich, wenn sie wütender wurde, als sie das eigentlich wollte. Es geschah nicht oft, doch ich wusste, was es bedeutete, wenn ihre Stimme leise und gepresst klang. »Solches Gerede will ich in diesem Haus nicht hören, Tess. Ich will es überhaupt nirgendwo hören. Wenn ich sag, dass du über etwas nicht reden sollst, dann redest du auch nicht drüber. Und das ist das Letzte, was ich zu diesem Thema gehört haben will.«
    Und es war das Letzte, das ich jemals zu ihr darüber sagte. Oder zu irgendjemandem. Ich verstand es als einen Hinweis darauf, dass Virgie Recht gehabt hatte und wir Tante Lou mit ihren Problemen und ihrer Trauer allein lassen sollten. Es machte mir nichts aus, seitdem ich der Brunnenfrau ein Gesicht geben konnte, das mich nicht mehr ängstigte. Auch das tote Baby fand ich nicht mehr so traurig. Die beiden passten auf eine Art und Weise zusammen, die zwar nicht glücklich war, aber doch erträglich.
     
    Virgie
    Papa war unter dem Haus und suchte Kartoffeln heraus. Dort hielten sie länger und verfaulten nicht so schnell. Aber Mama hatte auch immer gerne einen Sack in der Küche vorrätig. Ein Sack voller Kartoffeln konnte ganz schön schwer sein, deshalb hatte Papa angeboten, ihn für sie hochzutragen. Ich unterbrach ihn zwar nur ungern, aber ich wollte mit ihm reden, nachdem ich endlich all meinen Mut zusammengenommen hatte.
    »Papa, ich will mit dir drüber reden, was ich nach der Schule mach.«
    Sein Kopf und seine Schultern steckten unter dem Haus, so dass seine Antwort unter der Veranda widerhallte. »Wenn du irgendwo hinwillst, musst du deine Mama fragen. Das entscheidet sie.«
    »Nein, ich meinte, was ich nach der Oberschule machen soll.«
    »Hä?« Es war klar, dass er mehr an die Kartoffeln als an mich dachte.
    »Na ja, ich muss irgendwas machen. Das weiß ich. Etwas, das Geld einbringt.«
    Er kam rückwärts unter der Veranda hervor, jeweils zwei Kartoffeln in seinen Händen. Vermutlich hätten auch drei hineingepasst. »Und woran denkst du, Mädchen?«
    Er klang, als wäre er wirklich neugierig und die Antwort, die ich geben würde, auf jeden Fall klug und richtig. Als ob er Mama etwas gefragt hätte und nicht mich. »Die Arbeitszeiten von Krankenschwestern sind nicht so gut«, sagte ich. »Sie arbeiten oft sehr lang, tagsüber und nachts. Und außerdem kann ich mich für kranke Menschen nicht so begeistern.«
    Er nickte, die Kartoffeln noch immer in seinen Händen.
    »Ich dachte, dass Unterrichten vielleicht etwas für mich wär. Miss Etheridge meinte, ich könnte gut sein.«
    Nachdem er die Kartoffeln in den Sack geworfen hatte, lehnte er sich an das Haus und schob die Hände in seine Hosentaschen. »Die Lehrerausbildung kostet Geld.«
    Daran hatte ich auch bereits gedacht. »Es sind zwei Jahre auf dem College. Und ich weiß, dass ich euch um Hilfe bitten müsste. Das ist es eigentlich auch, was ich dich fragen will, Papa: ob du mir hilfst, dorthin zu gehen.«
    Papa lächelte mich nachdenklich und ein wenig schief an. Dann trat er einen Schritt auf mich zu. Er streckte die Hand aus und schob mir eine Strähne hinters Ohr – eine Geste, die ich noch
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