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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
Autoren: authors_sort
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Augenblick rausschauen!«
    Und das taten sie auch, obwohl ich an meinem Rock zerrte, so fest ich konnte. Tom sah aus, als würde er vor Anspannung fast platzen. Er wollte offensichtlich nicht dabei erwischt werden, wie er meine Beine begutachtete, wollte mich aber ebenso wenig alleinlassen.
    »Warte nicht«, sagte ich zu ihm. »Naomi und ich kommen schon zurecht.« Die ganze Unterhaltung fand während eines derart starken Regens statt, dass man die Augen zukneifen musste. Ich glaube, das Wetter brachte die beiden dazu, schneller zuzustimmen, als sie das gewöhnlich getan hätten. Sie verabschiedeten sich also von uns und rannten davon.
    Als wir schließlich bei Naomi eintrafen, reichte mein Kleid nur noch bis zur Mitte meiner Oberschenkel und hatte kurze statt lange Ärmel. Wir hämmerten gegen die Tür, da wir nicht alles nass machen wollten. Tante Merilyn machte die Tür nur einen Spalt breit auf, ehe sie sich umdrehte und loslief, um Handtücher zu holen. Naomi und ich redeten währenddessen über mein Kleid, und sobald ich ein Handtuch um den Kopf gewickelt hatte, gingen Tante Merilyn und Naomi in die Hocke und begannen, an meinem Rock zu ziehen.
    Ich zerrte an den Ärmeln, während ich mich fragte, wie ich nach Hause kommen sollte, ohne dass mein Kleid wieder einging. Tess und ich wollten am nächsten Tag Lou Ellen Talberts Tante besuchen, und ich kam mir ziemlich frivol vor, mehr an den Kreppstoff als an den toten kleinen Jungen zu denken. In Wahrheit dachte ich immer weniger an ihn und seine Mutter. Irgendwo zwischen dem Basketballspiel und den Krankenhausbesuchen war es schwerer für mich geworden, mir das düstere, grauenvolle Leben vorzustellen, das ich der geheimnisvollen Mutter bisher zugeschrieben hatte. Auch sie selbst verlor an Düsterkeit und Schrecken. Sie wurde normaler. Und damit auch etwas langweiliger.
    Naomi und Bradford zuzusehen war nicht langweilig gewesen. Es kam mir vor, als würde Naomi unter einer Art Zauber stehen.
    »Wenn du deinen Prediger heiratest, wirst du nicht mehr so durch die Gegend laufen und dich amüsieren können«, sagte ich zu ihr, während mir das Wasser vom Kinn herablief und auf ihren Kopf tropfte. Zum dritten Mal wischte ich mir mit einem Handtuchzipfel das Gesicht ab. »Dann wirst du zu Hause festsitzen.«
    Naomi hielt mit beiden Händen mein Kleid fest, ohne sich zu bewegen, damit sich der Stoff dehnte, aber nicht die Form verlor. Sie öffnete gerade den Mund, um mir zu antworten, doch Tante Merilyn kam ihr zuvor: »Natürlich kann sie dann auch noch ihren Spaß haben.«
    »Wie viele verheiratete Frauen kennst du, die abends triefend nass auf ihren Veranden stehen und sich vor Lachen kaum halten können?«
    Tante Merilyn ließ daraufhin mein Kleid los, stand auf und war in drei großen Sprüngen vor dem Haus. Sie breitete die Arme aus, drehte sich mehrmals im Kreis und war in kürzester Zeit genauso klatschnass wie wir. Dann lachte sie laut auf und kam ruhigen Schrittes die Stufen zu uns herauf. Sie kniete sich wieder vor mich hin und leckte sich den Regen von den Lippen.
    »Mindestens eine«, erwiderte sie.
    Weder Naomi noch ich hatten während ihres Regentanzes etwas gesagt. Doch dann konnten wir nicht mehr an uns halten. Wir mussten noch heftiger lachen, als Tante Merilyn versuchte, ihr Kleid auszuwringen.
    »Himmel, es ist nicht alles nur Qual und Elend«, sagte sie, gab es auf, ihr Kleid trocknen zu wollen, und zerrte stattdessen an meinen Ärmeln.
    »Außerdem gibt es eine andere Art von Ehe. Man muss nicht nur in einer Grubenstadt verheiratet sein. Wenn man das nicht will, kann ich das gut verstehen. Aber du solltest nicht schon vorher urteilen, weil du sonst nichts anderes kennenlernen wirst. Schau dich erst mal um.«
    »Ich hab Birmingham gesehen«, sagte ich, aber sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört.
    »Du wählst den Mann aus, den du heiraten willst, Virgie. Du entscheidest, ob du die Betten machen willst oder lieber aufs Postamt gehst, um dort etwas zu tratschen. Du bist ein kluges Mädchen. Lieb. Hübsch. Ich hab dich mit Jack und Tess gesehen. Du hast bereits so viel Mütterliches in dir, wie das viele Frauen, die doppelt so alt sind wie du, nie haben werden. Du hast mehr Möglichkeiten als die meisten. Genieß es. Amüsier dich.«
    »Ich will aber nicht eines Tages feststecken«, sagte ich. »Ich will mich selbst über Wasser halten können, so wie diese Krankenschwestern, damit ich nicht irgendeinen Mann heiraten muss, nur damit ich was zu
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