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Wenn Die Nacht Anbricht

Titel: Wenn Die Nacht Anbricht
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durcheinander?«, fragte Papa.
    Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. »Ich hab nur keinen Hunger.«
    »Willst du deinen Schinken nicht?«, wollte Jack wissen. Er schien darüber so verwundert, wie wenn ich meinen Kopf abnehmen und liegen lassen würde.
    »Doch natürlich«, sagte ich und begann wieder an dem Schinken zu knabbern. Man ließ nichts auf dem Teller übrig.
    »Ich kapier nicht, was das Baby im Brunnen mit Schinken zu tun hat«, murmelte er.
    »Red nicht so über das arme Würmchen, Jack«, tadelte ihn Mama. »Das war mal ein Kind – genau wie du, Virgie oder Tess.« Papa legte seine Hand auf die meine – auf die Hand, in der ich nicht die Gabel hielt. »Das ist in Ordnung, wenn du durcheinander bist, Tessie. Muss ein Schock für dich gewesen sein. Ist es sicher noch immer. Das macht nichts mit dem Schinken.«
    »Ich ess ihn«, sagte Jack.
    Ich verpasste ihm unter dem Tisch einen Fußtritt. »Nicht, wenn ich ihn selber esse – Fresssack.«
    Aber in dem Tritt lag nicht viel Überzeugungskraft. Ich machte es nur aus Gewohnheit und konnte mich nicht einmal darüber aufregen, dass sich Jack mal wieder als Fass ohne Boden erwies. Ich wusste, Papa hatte ein schlechtes Gewissen. Und Mama auch. Eigentlich gab es keinen Grund dafür, denn mir war klar, dass sie in ihren Köpfen keinen Platz dafür hatten, sich auch noch über Babys in Brunnen Gedanken zu machen.
    »Geht schon wieder besser«, erklärte ich Papa.
    »Ich hab gehört, wie du im Schlaf hin- und hergerollt bist«, sagte Mama. »Du hast auch gewimmert.«
    Ich legte meine Gabel auf den Tisch. »Hab nur schlecht geträumt«, erwiderte ich.
    »Denkt ihr nicht alle dran?«, wollte Virgie wissen und schaute zwischen Mama und Papa hin und her. »Wer das getan hat? Und warum?«
    Mama und Papa sahen einander an, gaben aber keine richtige Antwort. Ich brachte es nicht über mich, die Gabel wieder in die Hand zu nehmen, selbst wenn das bedeutete, dass Jack meinen Schinken bekam. Mama bemerkte, dass ich mir den Mund abwischte und aufgegeben hatte.
    »Sicher, dass du nicht ihren Schinken willst, Albert?«, fragte sie. Papa schüttelte den Kopf und wies mit der Hand auf Jack. »Dann nimm ihn, Jack.«
    »Ich versteh’s einfach nicht«, meinte Virgie, während Jack meinen Schinken mit der Gabel aufspießte.
    »Dann iss wenigstens deinen Kürbis«, sagte Mama zu mir.

2 Tageslicht
    Jack
    Wir konnten von unserem Haus aus den Zug hören, auch wenn wir nicht die brennende Kohle rochen. Unser Haus lag kurz vor dem Schild, auf dem »Willkommen in Carbon Hill« stand, eine holprige Straße hinunter, auf der man sich fast den Kopf am Autodach anschlug, wenn man zur Kirche fuhr.
    Meine erste Erinnerung an die Stadt war das laute Pfeifen des Zuges. Die Luft von den rotierenden Rädern oder den Waggons selbst oder vielleicht alles zusammen blies mir heiß ins Gesicht. Der Zug hatte für mich etwas Beängstigendes und Lebendiges zugleich und verdrängte die Sonne und die ganze Stadt. Ich konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Es war der Eindruck eines kaum kniehohen Kindes von der Frisco Railroad. Hier holten wir unsere Großmutter Moore ab, wenn sie aus Tupelo zurückkam, wo sie Pops ältesten Bruder besucht hatte. Der Zug fuhr weiter nach Jasper und Birmingham und an andere unbekannte, ferne Orte. Später sollte er mich dann nach St. Louis bringen, wo ich einen Buchhalterkurs absolvierte – den ich hasste – und schließlich nach Washington, D. C. – das ich liebte –, um in J. Edgar Hoovers Büro kurz vor Pearl Harbour als Schriftsetzer zu arbeiten.
    Aber in jenen Tagen – in den Tagen, als Virgie und Tess und Mama und Papa die vier Pfeiler meiner Welt ausmachten – hatte die Frisco Line nur eine Aufgabe für mich: Großmutter wieder zu uns zurückzubringen.
    Die Stadt zog sich über den Hügel, nach dem sie benannt war. Die Kirchen und Wohnhäuser lagen ein Stück oberhalb der von Geschäften gesäumten Front Street. Die Personenzüge fuhren entlang der Front Street quer durch die Stadt, Seitengleise und LKW-Strecken zweigten davon zu den Gruben ab wie Beine und Arme von einem Rückgrat. Galloway war die größte Grubenfirma, die auch ein Kolonialwarengeschäft an der Ecke von Front Street und Galloway Road dem Brasher Hotel gegenüber unterhielt. Wenn man drei Kilometer links die Galloway Road hinauflief, kam man zur Hauptgrube. Wenn man die Front Street ein wenig weiter entlangging und bei den Gleisen rechts abbog, ging es dort um eine Kurve, wo
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